Vorstellung am 08.02.2020
Gabelstapleroper. Work in Progress. Aleatorische Musik. Es braucht nur ein paar Schlüsselbegriffe, und schon hat keiner mehr Lust hinzufahren. Und so fiehl mir, als relativer Redaktionsneuling, die ehrenvolle Aufgabe zu, einen Bericht über eine Aufführung zu schreiben, die sonst keiner sehen wollte.
Terminlich passte nur die 3. und letzte Aufführung. Aber da die Musik zu jeder Aufführung unter tätiger Mitarbeit des Publikums neu zusammen gewürfelt wird, kann man es auch als C-Premiere bezeichnen. Wer als Rezensent über eine Folgeveranstaltung berichtet, kann im Vorfeld schon einmal einen Blick darauf werfen, mit welchen Eindrücken die Kollegen das Stück und die Aufführung wahrgenommen haben. Und so fanden sich denn auch im Internet einige Kritiken, die den Handlungsablauf des Abends und die Inhalte der drei thematischen Exkursionen sehr akribisch und dezidiert beschreiben. Als Leitfaden zum Verständnis dieses NOpera-Projektes sicherlich hilfreich, fällt bei allen Texten jedoch das Fehlen von Wertungen auf, die den emotionalen Gesamteindruck des die Oper verlassenden Besuchers beschreibt. Man hat sich wohl nicht getraut?
Daher bin ich sehr glücklich, selbst als Kritiker einer C-Premiere, noch etwas Neues zur Rezeption dieses Stückes beitragen zu können: Der Abend ist wirklich grossartig!
Gerne hätte ich zur Verdeutlichung der dahinter stehenden emotionalen Kraft den letzten Satz in Dauergrossbuchstaben geschrieben. Aber die Verwendung von DAUERGROSSBUCHSTABEN ist – sofern nicht wichtige Gründe dafür vorliegen – in meiner Redaktion nicht erlaubt. Nur deswegen habe ich es gelassen. Sonst hätte ich es getan!
Die Einhaltung von Regeln ist wichtig. Ordnung ist das halbe Leben. CHAOSMOS wird im klassischen Format „Theater hinter dem Vorhang“ auf der Bühne gespielt, wobei die Zuschauer auf U-förmig angeordneten Stuhlreihen ebenfalls im Bühnenraum sitzen. Aus dem Foyer werden die Zuschauer durch die Brandschutzschleuse zwischen Vorder- und Bühnenhaus auf die Bühne geführt. Ein Ehepaar, das altersmäßig nach dem Abi 1968 in der Provinz zum Studium nach Berlin in eine linksintellektuelle Kommume gezogen sein könnte, wird wegen eines Glases Wein und einer Brezel, die jeder der Beiden mit sich führt, nicht auf die Bühne durchgelassen.
Das ginge ja nun gar nicht. Speisen und Getränke dürften keinesfalls mit auf die Bühne gebracht werden. „Hier fängt das Chaos ja schon an!“, schimpfte der Herr erbost. Ein experimentelles Opernprojekt hatte er sich offensichtlich anders vorgestellt. Und seinerzeit hatten sie sich in Berlin sicherlich noch ganz andere Freiheiten heraus genommen. Aber die 68-er sind vorbei. Wir haben 2020 in Deutschland. In Wuppertal, um genau zu sein. Aber es könnte auch an jedem anderen Ort in Deutschland sein. Halle oder Bremen, beispielsweise. Und außerdem irrte der Herr. Mit Betreten der Bühne fing nicht das Chaos an, sondern es beginnt die Ordnung.
Wir befinden uns in einem Logistikzentrum. Jedem Zuschauer war beim Betreten ein- oder mehrere Mappen mit Notenmaterial in die Hände gedrückt worden, die er – so war die Handlungsanweisung zur A-Premiere – irgendwo in den in der Bühnenmitte stehenden Regalen einordnen sollte. Das war der aleatorische Teil des Publikums, das damit dem Verlauf des Abends und seiner musikalischen Gestaltung eine eigene Prägung gab. Dieses ursprünglich gewählte Verfahren hätten sich jedoch als undurchführbar erwiesen, erfuhren wir in der Einführungsveranstaltung, da man nicht jedem Musiker jede Art von Noten habe vorlegen können. Wenn der Pianist auch in der Lage gewesen sei, den Part der Flöte zu übernehmen, sei die Flöte natürlich mit den Klaviernoten völlig überfordert gewesen. Work in Progress. Deswegen musste das Publikum nun streng darauf achten, dass die Noten für die verschiedenen Instrumentengruppen auch in die Fächer für die entsprechenden Instrumentengruppen einsortiert wurden. Dazu mussten Buchstabengruppen auf den Mappenrückseiten mit den Buchstabengruppen der Regalfächer in Einklang gebracht werden. Logistik ist mühselig.
Ein Chor von als Robotern gekleideten Sängern übernimmt die Aufgabe, Blatt für Blatt zu sortieren. Ein Gitarrist spielt schon einmal irgend etwas. Die Roboter singen schon einmal irgend etwas. Eine unangenehme Länge im Handlungsverlauf des Abends macht sich breit.
Die über Rutschen eintreffenden Pakete werden vom „Stower“ in die Regale eingeräumt. Der Stower scannt den Artikel und das Regalfach ein. Das IT-System erkennt dann, wo der Artikel zu finden ist. Ein "Picker" ist der Mitarbeiter, der die eingehenden Bestellungen einsammeln. Dabei ist er der Erfüllungsgehilfen seines Scanners: Dieser zeigt ihm das Regalfach an, das er als nächstes ansteuern muss.
Die beiden Sprechrollen von Jay und Joe stellen Menschen da, die abwechselnd als Picker und Stower arbeiten. Sie scheinen das Logistikzentrum schon lange nicht mehr verlassen zu haben. Vielleicht waren sie ja überhaupt noch nie draußen. Picken und Stowen. Stowen und Picken als Lebensinhalt.
Wir erfahren sehr viel über Ordnungsprinzipien. Löffel zu Löffel, Gabel zu Gabel. Aber wir erfahren besonders etwas über neue, moderne Ordnungsprinzipien. Die „Chaotische Lagerung“ ist ein Verfahren, wie es z.B. von Amazon genutzt wird. Der Stower stellt die Kartons irgendwo hin, wo gerade Platz ist. Einzig darauf hat er zu achten, dass kein Zweites der gleichen Art im selben Fach liegt. Die Einzigartigkeit des Objektes im Fach sorgt dafür, dass der Picker in der Lage ist, fehlerfrei und zügig das Bestellte zu finden. Der Begriff der „Einzigartigkeit“ scheint in diametralem Gegensatz zu unseren bisher erworbenen Ordnungsvorstellungen zu stehen. Wir horchen auf. Picken und Stowen. Ein Gabelstabler transportiert weitere Kisten. Doch das reibungslos funktionierende System weist Schwächen auf. Dreimal erleben wir, dass Kisten vom Stapler stürzen.
Die aus den Kartons herausquellenden Inhalte erzählt uns verschiedene Geschichten. Da geht es einmal um Carl von Linné, der sich als Erfinder einer binären Natur-Systematik große Verdienste erworben hat. Klasse, Ordnung, Art, Gattung und Varietät sind wichtige Schlüsselbegriffe des Systems, wie es auch die Zuordnung zu einem männlichen oder weiblichen Geschlecht braucht, die Dinge zu scheiden und die Fortpflanzung zu erklären. Animierte Projektionen und Texteinblendungen veranschaulichen die vorgetragenen Inhalte eindrücklich. Die Regeln werden erklärt, doch immer wieder stören Ausnahmeerscheinungen das doch so klar erscheinende Ordnungsschema: Autosexualität, Homosexualität, Intersexualität, Transsexualität und Non-Binarität. Es scheint fast mehr Ausnahmen als Regelmäßigkeiten zu geben. Eine sehr junge Zuschauerin starrt mit roten Ohren auf die eingespielten Filmsequenzen. Wurde hier mal über eine Altersfreigabe nachgedacht?
Eine zweite Geschichte führt uns in die Kolonialzeit, in der Versuche unternommen wurden, den den Europäern unbekannte Kontinent Afrika zu ordnen und den europäischen Herrschaftsräumen einzuverleiben. Die Unmöglichkeit eines solchen Projektes in einem Kontinent, in dem ein Großteil der Bevölkerung nomadisch lebt, beschriebene Bergketten gar nicht existieren und sich Quellen und Flussverläufe täglich ändern können, führte dazu, dass bis heute die Grenzen der ehemaligen Kolonien unlogisch verlaufen und immer noch oft der Grund für ethnische Konflikte sind.
Der dritte Exkurs beschäftigt sich mit einer Erfindung, die die Ära der Globalisierung und weltweiten Logistik erst möglich gemacht hat: Der Seecontainer. Weltumspannende Ereignisse werden am Beispiel eines individuellen Schicksals erlebbar gemacht.
Die Abläufe des Logistikzentrums zerfallen zunehmend chaotisch. Pakete überfluten die Rutschen und die Bühne. Der Gabelstapler gerät außer Kontrolle. Während Joe versucht, alte Ordnungen wieder herzustellen, ist Jay bereits auf der Suche nach höheren Ordnungen: Ihm ist auf seinen regelwidrigen Ausflügen aufgefallen, dass er den Warenausgang nicht finden kann. Und einen Wareneingang auch nicht. Wird hier gar nichts verschickt? Picken und stowen die Beiden immer nur eine unüberschaubar große Zahl an Paketen, die sich alle in einem ewigen Kreislauf des Systems befinden? Wenn aber nichts reinkommt und auch nichts rauskommt: Wo ist denn dann der Sinn des ganzen Systems? Die Frage eines sinnstiftenden Gottes als Hüter des Systems „Welt“ wird hier nicht angesprochen, ist jedoch assoziativ zum Greifen nahe. Die Oper mit den vielen Kartons wagt sich an die ganz großen Fragen. Jay ist auf der Suche nach dem Masterplan, von dem der Sinn dieser ganzen Strukturen abzuleiten ist. Die Handlung, die zu Beginn noch etwas langsam in Bewegung gekommen ist, nimmt immer mehr an Tempo auf und überschüttet den Zuschauer mit Bildern und Assoziationen. Ein Feuerwerk emotionsweckender Aussagen wirkt auf den Betrachter.
Über den Bruch mit den Regeln finden Joe und Jay ihren Weg.
Übrigens gibt es dieses „Dänemark“ doch! Ich bin sogar schon dort gewesen.
Aber diese Sätze verstehen jetzt nur diejenigen, die das Stück gesehen haben. In Wuppertal sind keine weiteren Aufführungen geplant, aber in Halle und Bremen wird das Stück in den kommenden Spielzeiten wieder aufgeführt. Also: GEHT HIN! DER ABEND IST WIRKLICH GROSSARTIG!
Bilder (c) Jens Großmann
Ingo Hamacher 9.2.2020