
Wie viele Komponistinnen gibt es in den USA? In den Programmen der größeren US- Sinfonieorchester erschien in der Saison 2014/15 von Frauen komponierte Musik nur zu rund 1,8% (Wiki). Kamala Sankaram gilt als eine der aufregendsten Komponistinnen der USA, schrieb die Washington Post.
Die 1978 geborene Amerikanerin mit indischen Wurzeln schrieb Werke, die unter anderem von der Washington National Opera, der Los Angeles Opera und der Houston Grand Opera aufgeführt wurden. Promoviert in Psychologie, wandte sie sich ganz der Musik zu, weil sie keine Forschungsgelder mehr erhielt. Mit Rock und Jazz hatte sie da immer schon gelebt, sieht sich selbst musikalisch irgendwo zwischen Rhythm and Blues, Richard Strauss und Pink Floyd. Ihre Oper Last Stand ist ein experimentelles 10-Stunden Projekt, eine Klang- und Geräusch-Installation für die Bäume des Prospect Parks in Brooklyn. Looking at You für Mezzosopran, Tenor, zwei Baritone, Saxophone und einen Chor von 25 singenden Tablet-Computern weckt musikalische Erwartungen.
Jetzt aber zu „Thumbprint“ im Barmer Opernhaus.

Auf beiden Seiten eines weißen ca 1 m hohen Quaders, welcher im Bühnenhaus der Oper ausliegt und die eigentliche Bühne bildet, sitzt das Publikum. Auf einer Stirnseite musizieren Solisten des Sinfonieorchesters: Geige, Bratsche, Querflöte, Kontrabass, Klavier, Schlagzeug und orientalisches Schlagwerk. Auf der gegenüberliegenden Stirnseite erhebt sich eine hohe weiße Leinwand, auf die zunächst ein Schwarz-Weiß- Foto von Mukhtar Mai überlebensgroß projektiert wird – um sie geht es in der Oper.
Das Libretto dieser Kammeroper basiert auf Interviews mit der Pakistanerin Mukhtar Mai, die 2002 von vier Männern, Nachbarn aus ihrem Dorf, drei Tage lang vergewaltigt worden ist. Dazu war sie von den Dorfältesten verurteilt worden. Das Stammesgericht einer höheren Kaste hatte gesprochen. Denn nach der Tradition hatte sie für eine „unehrenhafte“ Tat ihres 12jährigen Bruders um Vergebung bitten müssen. Ihre Entschuldigung wurde nicht akzeptiert, was den Vorwand für das Verbrechen geboten hat. Vergewaltigte Frauen begehen in Pakistan entsprechend alter Regeln Selbstmord. Unterstützt von ihrer Familie, gab sie sich aber nicht auf und brachte die Vergewaltiger vor Gericht, von dem sie auch verurteilt wurden. In ihrer Autobiographie hat sie dieses unglaubliche, unfassbare Schicksal öffentlich gemacht („Die Schuld, eine Frau zu sein“) und tritt seitdem als Aktivistin für die Rechte der Frauen ein, baute von der erhaltenen Entschädigung eine Schule, damit Frauen und Mädchen Lesen und Schreiben lernen und nicht mehr vor Gericht mit einem Fingerabdruck des Daumens („Thumbprint“) gefälschte Dokumente unterschreiben müssen.
Die Kammeroper beginnt rasant, wenn, sozusagen das Ende vorwegnehmend, Reporter der Weltpresse die Aktivistin mit banalen Interviewfragen belästigen. Aufsteigende schnelle Viertonreihen der Streicher, immer wieder synkopisch gebrochen – da schlägt die Musik das Publikum sofort in den Bann. Wenn dann Mukhtar, ihre Schwester und ihre Mutter beim Waschen von Linsen und Kneten von Teig über Männer sprechen, schlägt das zunächst heitere Frauengespräch bald in bittere Ironie um und der Mann wird zu „Ziege, Löwe oder doch Esel“. Schlimm sind für junge Frauen ohne Mitgift alte Männer, deren Haare auf dem Kopf schwinden, dafür aber aus Nasen und Ohren sprießen. Wunderbar singen und spielen die beiden zunächst mädchenhaft unbekümmert zwischen dramatischen Koloraturen flottem Parlando später auch weibliche Verletzlichkeit und Stärke aus. Das lyrische, traurige Duo Mukhtar(Sharon Tadmor a.G.) /Mutter (Banu Schult) ist ein seelenvoller erster musikalischer Höhepunkt.

Mit Auftritt der Mastoi und deren Anschuldigungen nimmt die Dramatik zu. Die Musiker unter dem sicheren Schlag der Dirigentin Bonnie Wagner (seit 2023 Studienleiterin an der Oper Wuppertal), spielen inzwischen nicht mehr nur ihre Instrumente, sondern klatschen Rhythmen mit den Händen und rappen bzw. produzieren mit Mundsprech Rhythmen in bemerkenswerter Geschwindigkeit. Einzelne eingeschobene melodische Episoden von Geige und Bratsche gingen direkt zu Herzen. Musikalisch bilden die rhythmischen Episoden Brücken zum indischen Rata und zur kreisenden Musik der Sufisten, vor allem auch, wenn sich das indisch-pakistanische Schlagwerk untermischt. Oder die Sänger:innen finden über orgelpunktartig angehaltenen Instrumentalklängen rezitativisch zu beeindruckendem Pianissimo. Duette und Terzette füllten stets klar und sauber und höchst dramatisch den riesigen schwarzen Bühnenraum. Mit stimmlicher Wucht beeindruckten Otto Weidinger als Vater und Richter, Merlin Wagner (nicht nur Polizist, Reporter) als Faisz mit klarem tenoralem, hämisch-höhnisch keckem Gelächter über die Geschundene, bis sie ihm seine Kamera entreißt und und den Verbrecher ihrerseits filmt.
Das einfache Bühnenbild (Bettina John-Taihuttu) gewinnt an Tiefe durch dicke, abgebundene Tuchschlangen, die, Mukhtar umschlingend und fesselnd, ihre Extremsituation augenscheinlich werden lassen. Die Live-Projektion des Bühnengeschehens (Videodesign Elena Tilli) belebt zusätzlich zur klugen Personenregie von Katharina Kastening das Geschehen. Die in London geborene Regisseurin (2019-2023 Spielleiterin an der Oper Frankfurt) inszenierte u.a. an der Oper Halle und der Opera National de Lorraine in Nancy. In dieser Inszenierung unterhält sie nicht ihr Publikum, sondern „transportiert politische Inhalte“. Eingeblendete Texte schaffen sehr aktuelle Bezüge, wenn z.B. „die Schande die Seite wechseln muss“.
Nicht nur pakistanische Fundamentalisten vergewaltigen. In Deutschland wurden 2024 rund 13000 Frauen vergewaltigt, fast doppelt so viele wie 10 Jahre zuvor. Und in der Oper sind sexuelle Gewalt und Vergewaltigung seit Jahrhunderten gang und gäbe. Bei Thumbprint berührt vor allem die Authentizität der vom Opfer selbst dargestellten Geschichte.
Fazit: Ein starker, bewegender, authentischer zeitgenössischer Opernabend im Kammerformat mit aufregender Musik zwischen Jazz, Rap, HipHop, Sufi-Musik und Rata.
Johannes Vesper, 22. Juni 2025
Thumbprint
Kamala Sankaram
Oper Wuppertal
20. Juni 2025 Premiere
Inszenierung: Katharina Kastening
Musikalische Leitung: Bonnie Wagner
Sinfonieorchester Wuppertal
Weitere Aufführungen: 21. Juni,19:30 Uhr (Publikumsgespräch im Anschluss), 22. Juni, 18:00 Uhr (Publikumsgespräch im Anschluss), 4., 5. und 6. Juli jeweils 19:30 Uhr.
Begleitend während der Aufführungsserie Nebenton: Aufbegehren. Podiumsdiskussion, Lesung, Lesung, Audiowalk zu patriarchalischer und sexualisierter Gewalt in Wuppertal und Deutschland. (www.oper-Wuppertal.de/nebenton)
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P.B. 22,. Juni 2025
