Lüttich: „Dido and Aeneas“

Premiere: 09.05.2017

Versunken im Meer der Träume

Lieber Opernfreund-Freund,

Barockoper stand gestern in Liége auf dem Programm: Man gab die Premiere von Henry Purcells „Dido and Aeneas“ in der buchstäblich traumhaften Inszenierung des Duos Roussat/Lubek, die bereits 2014 im normannischen Rouen aus der Taufe gehoben und seither auch an den Theatern in Versailles und Turin gezeigt wurde. Purcells kaum eine Stunde dauerndes Werk erzählt die Geschichte von Königin Dido, der Gründerin von Karthago, die sich in Aeneas verliebt, der auf seiner Flucht aus Troja in Karthago anlegt. Eine von Hass zerfressene Zauberin gönnt der Königin ihr Glück nicht und übermittelt Aeneas in Gestalt Merkurs den angeblichen Wunsch Jupiters, sofort aufzubrechen. Der will gehorchen und verletzt damit die Gefühle Didos. Auch als er dann bei ihr bleiben will, stößt sie ihn zurück – wertet sie doch allein seinen Gedanken daran, sie zu verlassen, als Treuebruch. Aeneas reist ab und Dido stirbt, nach weltberühmtem Lamento, an gebrochenem Herzen.

Cécile Roussat und Julien Lubek entspinnen ihre Inszenierung rund um das Meer, an dem Karthago liegt, das Aeneas zu Dido hin, aber auch wieder von ihr weg bringt und in dem Dido am Ende ihrer herzzerreißenden Schlussarie versinkt. Didos Widersacher sind hier Meeresbewohner, die Zauberin – in Lüttich von einem Mann gesungen – ist ein Oktopus, die Hexen sind Meerjungfrauen. Die in sämtliche Blautöne aus nie aufdringlichem Licht von Marc Gingold getauchte Kulisse wirkt traumverloren, Amor turnt an quietschendem Trapez (da hätten zwei Tropfen Öl geholfen), tanzende Nixen und von umherturnenden Artisten dargestelltes Kriechgetier sind omnipräsent. Alle Protagonisten sind in Kostüme gehüllt, die phantasievoll-fantastisch sind, bekommen dadurch etwas Surreales. Die ganze Geschichte wirkt wie eine Mischung aus Traum und Wirklichkeit und zieht den Zuschauer mit ihrer Bildgewalt völlig in ihren Bann. Am originellsten und damit auch gelungensten sind dabei die Unterwasserwelt, in der sich der Krake samt Gefolge im zweiten Bild tummelt, sowie der bildgewaltige Schluss, wenn sich aus Didos Kleid der Ozean entspinnt und sie darin versinkt – das sind zwar vordergründige Wow-Effekte, die den Theaterbesuch aber in jedem Fall lohnen.

Wenn man ein Fan historisch informierter Aufführungspraxis ist, tut die musikalische Seite das nur bedingt. Um das Werk zu einem abendfüllenden zu machen, hat man ihm Purcells Suite ABDELAZER vorangestellt, die bei geschlossenem Vorhang erklingt, und deren Rondo dadurch Berühmtheit erlangt hat, dass Benjamin Britten es mehr als 250 Jahre nach seiner Entstehung zum Hauptthema seines „Young person’s guide to the orchestra“ gemacht hat. Vom Ensemble Les Agrémens unter der Leitung von Guy van Waas hätte man eigentlich einen puren, schnörkellosen Barockklang erwartet. Doch die Suite präsentieren die Musikerinnen und Musiker noch reichlich verwaschen, finden erst in der Oper zu reinem Timbre und zeigen da über weite Teile des Abends eher die schlanke Spielweise, die man heutzutage bei der Präsentation barocker Werke erhofft – und auch erhoffen darf. Auch ein Großteil der Sänger singt recht un-barock. Zwar zeigen alle Protagonisten einfallsreiche Variationen in den Wiederholungen, aber bezüglich barocker Stimmführung ist der Tintenfisch-Zauberer von Carlo Allemano noch eine der wenigen Ausnahmen, der mit kräftigem Tenor die Figur abgrundböse aber auch tief verzweifelt anlegt. Katherine Crompton als Belinda verfügt über einen klangschönen Sopran, den sie am gestrigen Abend in zahlreichen Farben erstrahlen lässt, zeigt aber da und dort Intonationsschwierigkeiten.

Auch der tiefgründige Mezzo von Roberta Invernizzi klingt seelenvoll. Doch greift die Italienerin immer wieder in die für Barockgesang untypische Vibratokiste und interpretiert das Lamento der Dido zwar gefühlvoll und berührend, aber doch eher wie Mimis Sterbeszene in Puccinis „Bohème“. Tief beeindruckt haben mich die beiden grandiosen Hexen Caroline Meng und Benedetta Mazzucato, die zum Teil an Seilen hängend ein überzeugendes und intrigantes Gespann bilden, während Jenny Daviet ihren feinen Sopran als second woman zeigen darf und dabei ganz nach Purcell klingt. Den Aeneas von Benoit Arnould erwähne ich bewusst ganz zum Schluss, so wenig konnte der junge Bariton mich überzeugen. So kommt es, dass der im Orchestergraben platzierte und durch die Akustik des Hauses einen einnehmenden Rundumklang erzeugende Chor zum Star des Abends wird. Der Chœr de Chambre de Namur unter der Leitung von Thibaut Lenaerts verbringt wahrhaft eine Glanzleistung, die Damen und Herren singen präzise und dabei weit mehr als untermalend und nehmen, ganz nach Purcells Vorstellung, eine tragende Rolle ein. Phänomenal!

Zwar glänzt am gestrigen Abend nicht alles so strahlend, wie der auf der Bühne verstreute Flitter, trotz der Abstriche, die Barockpuristen da und dort machen müssen, ist dem Produktionsteam zusammen mit den Musikerinnen und Musikern aber ein Gesamtkunstwerk gelungen, das das Publikum im voll besetzten Haus verdientermaßen zu Jubelstürmen hinreißt – der Weg ins benachbarte Belgien lohnt also, allein der schönen Bilder und des umwerfenden Chores wegen!

Ihr Jochen Rüth / 10.05.2017

Die Fotos stammen von Lorraine Wauters.