Osnabrück: „Doktor Faust“

Premiere: 16.06.2018, Wiederaufnahme: 19.12.2018

„… und bin so klug als wie zuvor!“

Lieber Opernfreund-Freund,

als letzte Premiere der vergangenen Spielzeit mit kaum einer Handvoll Aufführung gestartet, hatte Busonis selten aufgeführte Oper Doktor Faust gestern Wiederaufnahmepremiere am Theater Osnabrück. Und ein Besuch lohnt sich nicht nur für Raritätenjäger.

Dass allzu viele Partituren hochgenialer Musikwerke in irgendwelchen Schubladen mehr und mehr dem Vergessen anheimfallen, macht diese Ausgrabung überdeutlich. Ferruccio Busonis Beschäftigung mit dem Faust-Stoff ist eine atmosphärisch dichte, hoch komplexe, höchstexpressionistische Komposition voll klanglicher Wucht, die sich hinter der Salome von Richard Strauss oder Wagners Meisterwerk nicht verstecken muss – denn sie ist genau das – ein Meisterwerk. Klanglicher Bombast verliert sich immer wieder in feinst gesponnenen, gespenstisch, fast sphärisch klingenden Passagen, ausladende instrumentale Passagen ergänzen die Gesangsparts; der psychologisch ohnehin schon komplexe Stoff wird so um eine Facette bereichert, obwohl der Italiener und spätere Wahlberliner Busoni in seiner Komposition nicht nur auf das Drama von Goethe, sondern vielmehr auf die Ursprünge desselben im Mittelalter und eine Puppenspielumsetzung von Karl Simrock aus dem Jahr 1846 Bezug nimmt. Er setzt die Titelfigur mehr oder weniger allein ins Zentrum und nimmt damit eigentlich eine Reduzierung vor. Faust verkauft seine Seele, um Macht zu erhalten, und lädt dadurch Schuld auf sich; Schuld am Tod der Herzogin von Parma, die er nicht nur in ihrer eigenen Hochzeitsnacht verführt, sondern – wie zuvor Gretchen (nach deren Tod beginnt die Oper erst) – auch schwängert. Am Tod des Sohnes, aber auch an der Ermordung von Gretchens Bruder.

Im Libretto gibt es pausenlos Verweise, Andeutungen und Symbole von Busoni, der selbst das Textbuch zu seinem Werk verfasste, das bei seinem Tode unvollendet bleib und durch seinen Schüler Philipp Jarnach vervollständigt wurde. Doch die Regisseurin Andrea Schwalbach scheint keine Ambitionen zu haben, diese für den Zuschauer zu entwirren. Damit folgt sie zwar Busonis These, dass „um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden muss“, wie er es 1916 in seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst formuliert, doch scheint sie damit einen Teil des Osnabrücker Publikums zu überfordern. Das ist schade, denn es wäre gar nicht nötig gewesen, weitere eigene Symbolismen wie halb heruntergezogene Prospekte, das omnipräsente Kind Fausts, allgegenwärtige, skurril erscheinende Masken und etliche Verweise auf den Ursprung im Puppenspiel einzuflechten, wie Andrea Schwalbach es getan hat. Das Werk an sich bietet bereits genug Projektions- und Interpretationsfläche, die man nur hätte bedienen müssen. Die Bühne von Anne Neuser besteht im Wesentlichen aus Stühlen und herumliegenden Büchern, in denen jedermann immer mal wieder herumblättert, und aus gemalten Kulissen, die, von oben ins Bild gezogen, an Kasperltheater erinnern. Die Kostüme von Stephan von Wedel verweisen eher nichts sagend auf die unbestimmte Gegenwart, auch wenn der Kostümbildner schon einmal mit den Geschlechterrollen spielt. Das Regieteam scheint so viele Ideen umsetzen zu wollen, dass keine recht verfolgt wird, man sich in Symbolen verzettelt und das Zitat aus Fausts Monolog „und bin so klug als wie zuvor“ leider als Resümee stehen muss. So bleibt das wirklich Erlebenswerte am gestrigen Abend, die geniale Musik Busonis – und die überragende musikalische Leistung des Teams.

Busonis Doktor Faust gerät zur Sternstunde des walisischen Baritons Rhys Jenkins, der die Titelfigur dermaßen intensiv verkörpert, dass man als Zuschauer sein Zaudern und Wanken, aber auch seine Jagd nach Glück in jeder Sekunde mitfühlt. Scheinbar ohne jede Anstrengung meistert er auch stimmlich diese Mörderpartie, zeigt das Seelenleben Fausts mit all seinen Facetten und bietet damit gewissermaßen die logische Steigerung zu seinem schon bemerkenswerten Rigoletto aus der vergangenen Spielzeit. Dem Tenor Jürgen Müller bei der Darstellung des Mephistopheles zuzuschauen, ist ein wahrhaft teuflisches Vergnügen. Seinem hellen und klaren Tenor mischt er immer wieder unterschwellig intrigante, bedrohliche Töne bei, präsentiert sich höhensicher und überzeugt auch schauspielerisch auf ganzer Linie. Lina Liu darf als Herzogin von Parma ihren glockenhellen Sopran nur vergleichsweise kurz zeigen (und lässt mich mich umso mehr auf ihre kommende Tosca freuen), glänzt aber mit einer überragenden Bühnenpräsenz. Mark Hamman erfreut mich mit seinem Herzog von Parma, der mich an den Strauss’schen Herodes erinnert, ebenso wie Genadijus Bergorulko als Zeremonienmeister. Aus der Unzahl kleiner Rollen sind zwei Sänger ganz klar primi inter pares: Jan Friedrich Eggers überzeugt mich als von der Regie verstörenderweise als gekreuzigter Jesus dargestellter Soldat und macht mit seinem intensiven Gesang und Spiel förmlich Gänsehaut und Silvio Heil sticht dermaßen klar und präsent aus der Gruppe der Wittenberger Studenten hervor, dass ich ihn gerade noch extra im Internet gegoogelt habe.

Die wuchtige Komposition Busonis wurde in der vergangenen Spielzeit von GMD Andreas Hotz einstudiert, ist auch beim 1. Kapellmeister Daniel Inbal in den besten Händen. Gemeinsam mit den Musikerinnen und Musikern des Symphonieorchesters Osnabrück gestaltet er die Partitur mit ihrer klanglichen Kraft mit hörbarer Freude und findet auch in den feineren Nuancen den richtigen Ton. Doktor Faust kann man darüber hinaus fast als Choroper bezeichnen, so vielbeschäftigt sind die Damen und Herren des Opernchores unter der Leitung von Markus Lafleur, singen Gebete aus dem Off oder glänzen in den Massenszenen. So wird es also klanglich mehr als rund gestern Abend – da ist die konzeptlos erscheinende Regie ein echter Wermutstropfen, besonders, da sie dem einen oder anderen Zuschauer so wenig zu vermitteln scheint, dass der sich trotz der genialen Musik dazu bemüßigt fühlt, das Theater zu verlassen. Ich bin geblieben und kann Ihnen wegen der musikalischen Qualität einen Besuch dieses Busoni in Osnabrück nur empfehlen.

Mit den besten Wünschen für ein friedvolles Weihnachtsfest bleibe ich

Ihr Jochen Rüth 20.12.2018

Die Fotos stammen von Jörg Landsberg.