Radebeul: „Carmen“

Premiere: 9.4.16, besuchte Vorstellung: 14.5.16

Konventioneller Klassiker

Lieber Opernfreund-Freund,

Publikumsrenner auf der Opernbühne sind wichtig. In Zeiten, die von knappen Kassen und Sparzwängen geprägt sind, garantieren sie in der Regel gut besuchte Vorstellungen und damit einen gewissen Grundsockel an Einnahmen, den jedes Haus braucht. Der ermöglicht dann erst Produktionen abseits des Standardrepertoires, da die All Time Favourites gewissermassen eine Subvention leisten. Die Kehrseite der Medaille ist, dass wirklich jeder sie zeigen muss – und auch zeigt – und das, obwohl die Werke musikalisch nicht unbedingt einfacher sind, nur weil sie beliebt sind. Im Gegenteil. George Bizets „Carmen“ avancierte mittlerweile zu einer meiner „Hass-Opern“. Die Musik ist wunderbar, vielschichtig und raffiniert, die Handlung bietet durchaus Ansätze, einen unterhalsamen, auch geistig fordernenden Opernabend zu erleben – und doch sieht man oft etwas anderes: so ist eine Prager „Carmen“, die ich einmal besucht habe, sicher die am lustlosesten gespielte Opernvorstellung, die ich je gesehen habe, eine Produktion an einer sächsichen Bühne vor ein paar Jahren nimmt den Spitzenplatz als am schlechtesten musizierter Abend ein und verteidigt ihn vehement. Mit einem flauen Gefühl im Magen habe ich also gestern das Stammhaus der Landesbühnen Sachsen in Radebeul betreten, um mir deren Interpretation dieser heutzutage vielleicht am häufigsten interpretierten Oper anzuschauen – und habe das Theater durchaus zufrieden wieder verlassen.

Die Lesart von Hauschef Manuel Schöbel erfindet das Rad sicher nicht neu. Er zeigt die Geschichte um die selbstbewusste, freiheitsliebende Frau, die lieber stirbt als nachzugeben, sehr konventionell – was durchaus legitim ist, setzt aber mit dem einen oder anderen originellen Regieeinfall durchaus Akzente. Die Einheitsbühne von Stefan Wiehl ist wenig spektakulär, die aufgebaute Rampe wird im Wesentlichen durch Requisiten und vor allem buntes Licht belebt, das die verschiedenen Stimmungen des Werkes treffend verstärkt. Licht und Schatten spielen überhaupt eine große Rolle in dieser Produktion, teilweise entsehen eindrucksvolle, scherenschnittartige Bilder – genauso scherenschnittartig bleibt allerdings auch die Charakterzeichnung der Agierenden. Der Zuschauerraum wird immer wieder Teil des Geschehens, die Tänzerinnen und Tänzer der Tanz-Werkstatt bereichern die Szenerie auch abseits der großen Tanzszenen und schaffen so, dass bei aller Traditionalität nicht wirklich Langeweile entsteht (Choerografie: Katrin Wolfram). Carmens Weiblichkeit bedarf keines Flamencokleides und keiner Rüschenvolants, die wunderbaren Kostüme, die Heidrun Patschurek in den theatereigenen Werkstätten angefertigt hat, sind liebevoll und variantenreich gestaltet, vermitten Lokalkolorit, ohne in diese Art von Kitsch abzudriften. So wird’s ein unterhaltsamer Opernabend mit blotrotem Ende, der sich sicher lange im Repertoire wird behaupten können.

Gesungen wird natürlich auch – und das auf durchaus beachtlichem Niveau. Am meisten im Ohr, im Auge und im Herzen bleibt mir aber nicht Carmen, die von Patrizia Häusermann, nach eher schwachem ersten Akt, in dem ich noch ein wenig Raffinesse vermisste, ab Akt zwei durchaus überzeugend die auf Selbstbestimmung bestehende junge Frau gibt. Rein äußerlich ist sie die Femme fatale, die man sich bei dieser Figur vorstellt, spielt und tanzt über weite Strecken wunderbar. Zu meiner Überraschung überzeugt sich mich aber nicht mit der Habanera, der Seguidilla oder im Schlussakt am meisten, sondern mit der unglaublich berührend vorgetragenen Kartenarie im dritten Aufzug. Vielmehr hängen bleibt an diesem Abend der wunderbar klare Sopran von Anna Erxleben, die als Micaela mit einem tollen Höhenpiano glänzt, das an das Timbre der jungen Anneliese Rothenberger erinnert.

Die absolute Wucht allerdings ist Bariton Paul Gukhoe Song als Escamillo, der die Partie sichtlich voller Vergügen und Durchschlagskraft auskostet. Schlichtweg fulminant! Haustenor Kay Frenzel als Don José singt mit viel Druck und ist deshalb vor allem in den kraftvollen Passagen eindrucksvoll. Michael Königs Zuniga ist beeindruckend, seine raumgreifende Stimme hat Gewicht. Als sein Sergeant Morales hat Fred Bonitz allerdings mit erheblichen Intonationsschwierigkeiten zu kämpfen. Iris Stefanie Maier und Antje Kahn sind zwei hinreißende Zigeunerinnen voller Leidenschaft, Spielfreude und stimmlicher Präsenz, Andreas Petzoldt und Marcus Sandmann ein gewitzt aufspielendes Schmugglerpaar. Der Opernchor, verstärkt durch Mitglieder des Freien Opernchores Sachsen ChoruSa, ist in bester Laune und überzeugt ebenso wie der Kinderchor, der zudem auch darstellerisch einmal genauso gefordert ist, wie die erwachsenen Kollegen. (Einstudierung: Sebastian Matthias Fischer und Elke Linder).

Hans-Peter Preu am Pult der Elbland Philharmonie Sachsen gelingt das Kunststück, diese „Carmen“ mit den nötigen spanischen Farben zu versehen und sie doch als französisches Werk, was sie ja immerhin ist, zu präsentieren.

Ein Besuch dieser „Carmen“ lohnt also. Nicht etwa, weil die psychologische Deutung dermaßen ausgefeilt wäre oder die beiden Hauptrollen extrem überzeugend dargeboten würden – das hat man oft schon besser gesehen. Und auch schlechter. – sondern weil Frau Erxlebens Micaela und Herrn Songs Escamillo mich wirklich haben beeindrucken können.

Ihr Jochen Rüth / 15.05.2016

Bilder (c) Landesbühne