Stuttgart: „Hänsel und Gretel“

Eine Sternstunde hochkarätigen Musiktheaters stellt die Neuproduktion von Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel an der Staatsoper Stuttgart dar. Regisseur Axel Ranisch hat in Zusammenarbeit mit Saskia Wunsch (Bühnenbild) und Alfred Mayerhofer (Kostüme) hervorragende Arbeit geleistet. Ranisch hat das Werk geschickt modernisiert und zusammen mit seinem Team äußerst ansprechend auf die Bühne gebracht. Seine phantastische Arbeit ist nicht nur etwas für Erwachsene, sondern auch für Kinder gut geeignet. Was er hier so hochkarätig präsentiert, ist für Angehörige aller Altersgruppen ein echter Hochgenuss. Inszenierung, Musik und Gesang fügen sich zu einer phantastischen Symbiose zusammen, die in jeder Beziehung helle Freude bereitet.

Hänsel und Gretel sind in Ranischs gelungener Konzeption zwei zeitgenössische Teenager. Der langhaarige Hänsel trägt seine Mütze verkehrt herum, wie es heutzutage die meisten Jugendlichen zu tun pflegen. Die Besen bindet er aus Drähten. Auch das gemahnt stark an die Gegenwart. Gretel ist auf eine Brille angewiesen. Ihre Sehschwäche hat sie offenbar von ihrem Vater Peter geerbt, der ebenfalls eine Brille trägt. Die Griesgram-Szene scheint einem Mantel-und-Degen-Film entnommen zu sein. Im ausgelassenen Herumtollen ist das Geschwisterpaar ganz groß. Während ihrer Tanzeinlage im ersten Akt stürmt eine Anzahl weiterer Kinder die Bühne und beteiligt sich am Tanz. Dieser Einfall ist zwar nicht mehr neu, aber durchaus gefällig. Der Milchtopf geht hier nicht zufällig zu Bruch, sondern wird von Hänsel absichtlich zerbrochen – eine unüberlegte Tat, die der Knabe sofort bereut und darob in Tränen ausbricht. Die Mutter Gertrud hält sein Weinen für Lachen und gerät nur noch mehr in Wut. Erbost schickt sie die Kinder in den Wald zum Erdbeerensuchen.

Ob Hänsel und Gretel aber auch Erdbeeren finden werden, ist zweifelhaft, denn der Wald ist abgebrannt. Zu Beginn des Vorspiels sieht man ihn noch in seiner ganzen Pracht. Dann aber werden Flammen sichtbar, denen er gnadenlos zum Opfer fällt. Eine durch den von Menschen heraufbeschworenen Klimawandel verursachte extreme Hitze hat offenbar die Katastrophe heraufbeschworen. Nachhaltig beschwört Ranisch hier die Situation in Kalifornien und Brandenburg herauf. Dort hatten die Bewohner in den letzten Jahren ja auch stark unter Waldbränden zu leiden. Und dass es in einem verkohlten Wald nichts mehr zu essen gibt, ist durchaus logisch. Das Versorgungssystem ist gänzlich zusammengebrochen. Und hier kommt die bei Ranisch überhaupt nicht alte und hässliche, sondern noch relativ junge, elegant gekleidete und blonde Hexe ins Spiel. Sie ist die einzige Person, die in dieser Produktion noch etwas zu essen anzubieten hat. Bei Ranisch treten Drops an die Stelle der Lebkuchen. Diese bunten Leckereien lässt die Hexe in ihrem Konzern mit dem Namen Leckermaul herstellen. Und sie hat Erfolg damit. Sie glaubt, mit dieser Wohltätigkeitsarbeit etwas Gutes für die Gesellschaft zu tun. Damit beabsichtigt sie, ihre Grausamkeiten zu legitimieren, ohne Strafe fürchten zu müssen. Das Bewusstsein für das Maliziöse ihrer Handlungsweise hat sie verloren, und auch die sie umgebende Gesellschaft wurde von ihr in diesem Sinne geformt.

Ein guter Regieeinfall ist es, dass die Hexe hier bereits im zweiten Akt auf Hänsel und Gretel trifft. Während Gretel ihr Lied Ein Männlein steht im Walde singt, schenkt sie Hänsel eine Anzahl Drops, die sie aus einer mitgeführten Handtasche nimmt. Mit Tschechow’ schen Elementen kann Ranisch trefflich umgehen. Bereits während des ersten Aktes erblickt man eine Schar Kapuzenträger, die sich im Folgenden als instrumentalisierte Geschöpfe der Hexe erweisen. Sie führen hell erleuchtete Besen mit sich, die Assoziationen an die Lichtschwerter aus Star Wars hervorrufen. Sie treten während der Pantomime des zweiten Aktes an die Stelle der hier unsichtbar bleibenden vierzehn Engel. Ob sie den Geschwistern Böses wollen, bleibt jetzt noch offen, jedenfalls werden sie von dem Sandmännchen erfolgreich abgewehrt. Richtig offenkundig wird das Böse erst im dritten Akt. Gretel findet heraus, dass die Drops aus den von der Hexe gefangenen Kindern bestehen – eine Tatsache, die geeignet ist, ihr ganz schön den Appetit zu verderben. Kein Wunder, dass sich die Einstellung von Hänsel und Gretel zum Thema Essen demzufolge radikal ändert. Überzeugend ist das Ende gelungen, als die Hexe, nicht von den Geschwistern, sondern von den Kapuzenmänner, die sich auf diese Weise aus ihrer Knechtschaft befreien, in den Ofen gestoßen wird. Nun ist auch diese Nahrungsquelle zusammengebrochen. Die Menschen werden nun auch nicht mehr mit Drops versorgt. Die Hungersnot hat mithin kein Ende gefunden. Als Hoffnung bleibt das Taumännchen. Aber diesem Prinzip Hoffnung misstraut der Regisseur und versieht es mit einem großen Fragezeichen. Das war alles sehr überzeugend und mit Hilfe einer stringenten Personenregie auch spannend umgesetzt.

Am Pult erbringt Alevtina Ioffe eine ausgemachte Glanzleistung. Mit großem Können rückt sie das Werk ganz stark in die Nähe von Richard Wagner, dessen Assistent Humperdinck ja bei der Uraufführung des Parsifal 1882 in Bayreuth war. Dabei dreht sie den Orchesterapparat mächtig auf, ohne indes dabei die Sänger zuzudecken. Es gelingt ihr, zusammen mit dem versiert aufspielenden Staatsorchester Stuttgart eine enorme Spannung aufzubauen und gleichzeitig eine gute Transparenz zu wahren. Die Mittelstimmen werden trefflich herausgearbeitet und zudem zahlreiche Einzelheiten hörbar gemacht. Es ist schon ein äußerst berauschender, brillanter Klangteppich, der von ihr und den Musikern erzeugt wird. Bravo!

Auch mit den Sängern kann man voll zufrieden sein. Es wird durchweg ausgezeichnet körperverankert gesungen, was eine Seltenheit ist und beredtes Zeugnis von dem hohen Niveau der schon oft bewährten Staatsoper Stuttgart ablegt. Mit kraftvollem, differenzierungsfähigem und mühelos bis zum hohen ‚c‘ heraufreichendem Sopran singt Josefine Feiler eine ausgezeichnete Gretel, die sie auch ansprechend spielt. Neben ihr bewährt sich in der Partie des Hänsel mit profunder, emotional angehauchter und nuancenreicher Mezzosopran-Stimme Ida Ränzlöv. Als sehr unkonventionelle Hexe ist Rosie Aldridge schon darstellerisch eine echte Wucht. Gesanglich begeistert sie ebenfalls mit ihrem pastosen, äußerst kräftigen und ebenmäßig geführten tiefen Mezzosopran. Ein voller, sonorer Stimmklang zeichnet den Besenbinder Shigeo Ishino s aus. Neben ihm überzeugt die voll und rund singende Mutter Gertrud von Catriona Smith. Über einen recht gefühlvollen, angenehm dunkel timbrierten Sopran verfügt das Sand- und Taumännchen von Laia Vallés. Eine ansprechende Leistung erbringt der Kinderchor der Staatsoper Stuttgart.

Fazit: Eine grandiose, geradezu preisverdächtige Aufführung, die den Besuch in jeder Beziehung lohnt!

Ludwig Steinbach, 20.4.2022