Paris: „Nelken“, Pina Bausch

Vorstellung am 12.05.2015

Rote Rosen auf dem Grab dieser einzigartigen Choreographin

Pina Bausch ist gestorben, aber „ihre Kinder leben noch“ – so wie man es überall auf Programmzetteln lesen kann. Denn seit 2009 tourt das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch ohne sie weiter durch die weite Welt und kommt auch weiterhin jedes Jahr im Mai/Juni nach Paris an das Théâtre de la Ville. Der inzwischen auch verstorbene Direktor des Theaters Gérard Violette (1937-2014) war einer der allerersten Direktoren, der schon 1976 das damals sehr umstrittene Genie von Pina Bausch erkannte und sie entscheidend gefördert hat, indem er sie ab 1985 jedes Jahr für zwei/drei Wochen nach Paris einlud. Auch wenn noch gar nicht feststand, was dann überhaupt gespielt werden würde. Auf der Spielzeitbrochüre stand nur „une nouvelle création de Pina Bausch“ – einige von ihren Balletten sind in Paris uraufgeführt worden – und innerhalb weniger Stunden waren alle Plätze ausverkauft. Nur die Abonnenten waren sich im Voraus ihres Platzes sicher und so schaffte Violette es, dank der vielen Abonnements, auch jedes Jahr neue und teilweise vollkommen unbekannte Künstler in Paris zu präsentieren. Aus Amerika kamen Merce Cunningham, Lucinda Childs, Trisha Brown und die inzwischen in Paris wohnende Carolyn Carlson (die am Théâtre de la Ville einige ihrer meist originellen Arbeiten schuf), aus Belgien ein ganzes Dutzend von jungen Choreographen, angeführt durch Anne-Teresa de Keersmaeker, aus Japan wieder ein Dutzend Künstler angeführt von Ushio Amagatsu und seiner Kompanie Sankai Juku. Und alle schufen jedes Jahr wirklich Neues in Paris. Deswegen hat das Théâtre de la Ville – ursprünglich von Sarah Bernhardt als reines „Sprechtheater“ erbaut – bis heute ein wirklich einzigartiges Programm, in dem sich viele „Mischformen“ mühelos entfalten können wie das „Tanztheater“ von Pina Bausch (in dem getanzt und gesprochen wird).

„Nelken“, 1982 am Schauspielhaus in Wuppertal uraufgeführt, wurde vor allem wegen seinem Bühnebild eines der bekanntesten Stücke von Pina Bausch. Peter Pabst pflanzte Tausende von riesengroßen Plastiknelken auf die Bühne, angeregt durch die farbenfrohen Tulpenfelder in Holland (wie er es in dem schönen Film von Wim Wenders erzählt). Es wirkt so, als ob aus der braunen, rohen Erde des „Sacre du Printemps“ (1975) eine glückliche Blumenwiese geworden wäre, auf der sich mehrere gut angezogene Menschen (in eleganten Kostümen von Marion Cito) in komfortablen Sesseln niederlassen und an die Liebe denken. Wir hören Richard Tauber auf einer alte Aufnahme „Schön ist die Welt“ singen (aus der gleichnamigen Operette von Franz Lehar). Er gibt den Tänzern den Mut, um sich nach einem passenden Partner umzusehen. Und die Suche beginnt… im Publikum, wo einige Damen und Herren diskret aufgefordert werden, eben den Saal mit den Tänzern zu verlassen. Ein Mann der nicht reden kann, bleibt alleine übrig. In Taubstummensprache träumt er – zusammen mit Billie Holiday auf einer alten Schellackplatte – von „The Man I love“…

Doch damit dies nicht zu kitschig gerät, wurde die rosa Nelkenwiese mit Stacheldraht umzäunt, vor dem Polizisten mit Wachhunden patrouillieren. Und gerade im Augenblick, wo die Tänzer ihre Anzüge und Krawatten ausgezogen haben und vergnüglich in Frauenkleidern wie Kaninchen durch die Nelken springen, erscheint ein Polizist und fragt: „Papiere Bitte“ (in Paris nun: „passeports s’il vous plait“). Die Musik hört auf, das rosa Licht verschwindet und nach einer langen und umständlichen Passkontrolle folgt ein nüchternes: „Sie können weiter hüpfen“. Doch anscheinend genügte dies nicht, um die Idylle zu brechen. Bald nach der Uraufführung arbeitete Pina Bausch noch weiter an ihrer Choreographie und „Nelken“ ist deswegen das Stück, an dem sie noch am meisten geändert hat. So wurden vier „Stuntmen“ engagiert, die am Rande der glücklichen Wiese zwei Meter hohe Berge aus leeren Kartons aufbauen, auf die sie dann aus ungefähr zehn Meter Höhe springen. Sie springen auch wie schwarze Raaben gefährlich nah über die glücklichen Tänzer und fallen immer wieder hart auf einen Holztisch. Das waren ursprünglich – zumindest noch 1992 bei dem letzten Gastspiel von „Nelken“ im Théâtre de la Ville – sehr gefährliche Stunts. Denn die vier Männer sprangen „aus dem Stand“ in die Luft (also ohne Anlauf), machten ein Salto und landeten mit ihrer rechten Schulter auf der scharfen Metallecke des Tisches. Sie brauchten nur einige Zentimeter falsch zu landen und sie hätten sich den Nacken gebrochen. Das Publikum hielt bei jedem Sprung voller Angst den Atem an…

Auch wenn offiziell alles „genau so getanzt wird, wie vor dreißig Jahren“, hat der Abend Einiges an Spannung verloren. Liegt es daran, dass wir das Stück nun zum dritten Mal sehen? Liegt es an den weniger gefährlichen Stunts? Liegt es daran, dass „Nelken“ ausnahmsweise im gegenüberliegenden Théâtre du Châtelet gegeben wird? Denn anstatt über der Bühne zu sitzen, wie in Wuppertal (ursprünglich ein altes Kino) oder im Théatre de la Ville (zu einem großen Auditorium umgebaut), sitzen wir im Châtelet (ein altes Opernhaus mit Guckkastenbühne) zumindest im Parkett unter der Bühne und sehen hauptsächlich 50 cm hohe Nelken auf der Vorderbühne. So haben wir jetzt die patrouillierenden Schäferhunde auf der Hinterbühne einfach nicht gesehen. Die 23 Tänzer sind verständlicher Weise nicht mehr die gleichen als bei der Uraufführung 1982 und nur vier von ihnen waren im letzten „Nelken“-Gastspiel 1992 noch dabei. Es ist nicht mehr Lutz Förster, der von dem „Man I love“ träumt, sondern Scott Jennings (sehr gut). Und es ist nicht mehr der unvergessliche Dominique Mercy, der das Publikum fragt, was es noch sehen will („eine Pirouette ?“, „ein grand jeté ?“ etc), sondern nun Fernando Suels Mendoza (etwas weniger überzeugend).

Doch es wäre unfair, die persönlichen Leistungen der Tänzer lange zu kommentieren, denn an ihnen hat es nicht gelegen, dass der Abend etwas lang wurde. Es scheint, alsob das Stück an seiner ursprünglichen Schärfe und Radikalität verliert, wenn man jedes Detail der Inszenierung nun lange „zelebriert“. Das ist bei anderen Stücken von Pina Bausch nicht so, da sie ganz genau auf eine bestimmte Musik geschrieben wurden und nicht bei einer Wiederaufnahme um etliche Minuten verlängert werden können. So war das Gastspiel vom „Sacre du Printemps“ im Juni 2013 im Théâtre des Champs-Elysées ganz wunderbar (siehe Merker 7/2013) und so wird es sicher noch viele überzeugende Gastspiele von anderen Stücken geben. Denn eines ist sicher: es lohnt sich immer wieder, in die sehr originelle und besondere Welt der Pina Bausch ein zu tauchen!

Waldemar Kamer