Berlin: „Intolleranza 1960“, Luigi Nono

Premiere am 23.9.2022

In Schönheit sterben

Als im Jahre 1961 Luigi Nonos Intolleranza 1960 im Teatro La Fenice in seiner Heimatstadt Venedig uraufgeführt wurde, störten Neofaschisten die Vorstellung durch das Werfen von Stinkbomben und riefen während der Folterszenen „Viva la polizia“. Die Kommunistische Partei Italiens, in deren Zentralkomitee der Komponist einige Jahre lang saß, konnte um die 25% aller Wählerstimmen auf sich vereinigen, war die stärkste kommunistische Partei Westeuropas. Ein Jahr nach Nonos Tod 1990 löst sich die Partei auf, eine Nachfolgerin erzielt regelmäßig bei Wahlen weniger als 2 Prozent, während die rechtsextreme Partei Fratelli d’Italia zwei Tage nach der hier besprochenen Aufführung von Nonos Intolleranza wohl als stärkste Partei aus Parlamentswahlen hervorgehen und den ersten weiblichen presidente del consiglio stellen wird. Edelkommunisten nannte man die zahlreichen Künstler, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Marxismus-Leninismus liebäugelten und hofften, er würde für eine gerechtere Welt sorgen. Wie viele andere wandte sich auch Nono nach dem Einmarsch von Sowjettruppen 1968 in Prag vom Kommunismus sowjetischer Lesart ab, hatte sich bereits zuvor eher in Kuba, China und Peking wertgeschätzt fühlen können als in der SU und der DDR. Als Illusion erwies sich das Streben der Freunde Nono, Abbado und Maderna, Letzterer Dirigent der Uraufführung, durch Konzerte in den Fabriken die Bereitschaft der Arbeiter zum Klassenkampf zu befördern. Oper ist nun einmal eher ein Kunstgenuss, dem sich die Bourgeoisie hingibt.

Trotz alledem ist Intolleranza 1960 ein hochaktuelles Stück, selbst wenn man es mit umgekehrtem Vorzeichen lesen muss, denn der Held kehrt nicht seiner Heimat den Rücken, um in der Fremde sein Glück zu versuchen, sondern will in diese zurückkehren und ertrinkt dabei in der plötzlich hereinbrechenden Flut, so wie aktuell Flüchtlinge aus Afrika auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer umkommen. Er ist „der Mann, der sich gegen den Zwang der Bedürfnisse erhebt“, der während seiner Reise wohl deswegen auf einen Algerier trifft, weil zur Zeit der Entstehung der Oper der Unabhängigkeitskampf der französischen Kolonie stattfand. Die Idee zum Libretto stammt von Angelo Maria Ripellino. In ihm finden sich dokumentarische und lyrische Texte von Bertolt Brecht, Wladimir Majakowski und Julius Fućik. Seltsam ist, dass ihm dadurch, dass nicht die herrschende Klasse, sondern die Natur den tödlichen Schlag gegen den Helden ausführt, etwas an gesellschaftlicher Brisanz verloren geht, Nonos Intention, „meine Musik dient dem Klassenkampf und provoziert die Bourgeoisie“, nicht optimal verfolgt wird. Dafür wird den ästhetischen Bedürfnissen des Publikums auf phänomenale Art und Weise Rechnung getragen durch eine schillernde Eiswüste (Bühne Marton Āgh), gegen die der Held seinen aussichtslosen Kampf führt.

Nicht leichtgemacht haben es sich die beiden neuen Intendanten Susanne Moser und Philipp Bröking mit der Wahl ihres Einstandsstücks, einem kommunistischen Mysterienspiel mit teilweise mitreißender Musik, vor allem, was die Chöre betrifft, und teilweise heutzutage unverdaulichem Text. Die Komische Oper Berlin folgt mit der Inszenierung von Marco Storman den Vorstellungen Nonos, „die klassische Bühnensituation aufzulösen“, indem das Parkett des gesamten Zuschauerraums zur Bühne, diese und die Ränge zum Zuschauerraum werden, das Publikum „Teil des Settings“ wird und Nonos Vorstellungen von Oper als „Symbol, Report und Fantasy“ berücksichtigt werden. Nono lässt seinen Helden und dessen Gefährtin ertrinken, in der Komischen Oper wird der gesamte Zuschauerraum zu einer Eiswüste, umgeben von ebenfalls ganz in Weiß gehaltenen Sitzreihen, deren Besucher sich weiße Tücher wie Riesenlätzchen umbinden müssen, so Teil des Geschehens werdend. Die meisten Zuschauer jedoch sind im Ersten Rang und auf der Bühne untergebracht. Ganz in Weiß ist auch der Chor gekleidet, muss er nicht singen, verhüllt eine Art Imkerschutz die Gesichter (Kostüme Sara Schwartz). Wie Märchenfiguren sind die beiden Frauen gekleidet, die den Weg des Helden begleiten, die eine ganz in bräutliches Weiß, die andere wie eine düstere Königin der Nacht in Schwarz. Nicht nur dadurch wird das Stück dem Zeitlichen, Realen enthoben, auch die Figur Engel der Geschichte, die rezitierend vom subjektiven Erleben wegführt ins überzeitlich Allgemeingültige, verfremdend und befremdlich durch Anklänge der wunderbaren Ilse Ritter an eine uralt gewordene Lilian Harvey.

Die Inszenierung vermeidet naturalistische Effekte, bleibt auch bei Folterszenen und denen des massenhaften Ertrinkens dem Stilisieren verpflichtet und dadurch besonders eindrucksvoll. Durchweg hocherfreulich sind die Sängerleistungen mit einem jugendlichen Sean Panikkar als Emigrante, dessen Tenor so frisch ist wie seine optische Erscheinung. Die alte und die neue Gefährtin sind mit Gloria Rehm und Deniz Uzun ebenfalls rollendeckend besetzt. Wieder als unverzichtbare Stütze des Ensembles erweist sich Tom Erik Lie als Algerier, Tijl Faveyts kann mit seiner Darstellung des Gefolterten beeindrucken. Der wahre Star des Abends sind aber einmal mehr die Chorsolisten der Komischen Oper, verstärkt durch den Vocalconsort Berlin. Dem Chorleiter David Cavelius gebührt mindestens ebenso viel Ehre wie dem Dirigenten Gabriel Feltz und dem im Zweiten Rang agierenden Orchester.

23.9.2022 / Ingrid Wanja

Fotos Barbara Braun