Hof: „Der fliegende Holländer“

Premiere: 22.9. 2017., besuchte Vorstellung 21.10. 2017

Eine schöne junge Frau liegt auf der Bühne. Ein weißes, luftiges Sommerkleid, lange braune Haare. Ein Schiffsmodell auf dem Boden, ein Globus, Seemannskisten. Es stürmt gewaltig, sie erwacht, sie erhebt sich. Oben, zu weit oben, hängt ein Porträtgemälde, einen bleichen Mann zeigend, das sie nicht anlangen kann. Plötzlich fällt das Bild herunter. Die Frau gerät in Panik. Sie zieht sich in die letzte Ecke zurück, das Bild an der anderen, weit entfernt, abstellend, doch sichtbar genug. Den Raum kann sie nicht verlassen, doch auch das gespenstische Bild nicht fliehen. Sie flüchtet. Schließlich gibt sie auf. Sie kehrt schließlich zum Bild zurück. Es gehört ihr. Die Oper hat bereits begonnen.

Träumt Senta den Traum vom Erlöser, dem Fliegenden Holländer? Blütenweiß gekleidet, also wie der Engel, von dem der Schwarze Mann seit 1000 Jahren träumt, hat Senta eine Idee. Wie wäre es, von einem außergewöhnlichen Anderen aus der gewöhnlichen Bürgerwelt herausgeholt, also „erlöst“ zu werden? Träumt sie? Stellt sie sich die Geschichte, die wir als Geschichte vom Fliegenden Holländer kennen, sehr bewusst vor?

Die Idee, Senta träumen zu lassen, ist bekanntlich nicht neu. Die eindrücklichste Version dieser Neuinterpretation der Oper hat Harry Kupfer 1978 in Bayreuth vorgelegt: eine theatralisch ungemein drastische, doch auch fragwürdige Inszenierung, die seinerzeit den wie stets reflektierenden Friedrich Dieckmann zur Erkenntnis brachte, dass mit einer solchen Lesart eine Einheit von Realität und Fiktion behauptet wird, die vom Werk nicht gedeckt wird. Kupfers Rechnung sei nicht aufgegangen, weil sie die musikalische und dramatische Unmittelbarkeit des Werks angetastet habe: „Eine Einheit der Handlung herstellend, beschädigt sie dessen poetische Naivität.“ Aber hat nicht schon 1929 Ernst Bloch in seinem „Holländer“-Essay zurecht behauptet, dass „das erste gefühlte Merkmal der guten Stube“, aus der auch der junge Wagner floh, der Traum sei?

Tatsächlich geht nicht jede Szene der Inszenierung Reinhardt Frieses auf, weil die seltsam neutrale, fast ausschließlich beobachtende Position der Schauspiel-Senta (Susanne Mucha) für die Handlung, die uns auf der Hofer Bühne vorgeführt wird, völlig unergiebig ist und die träumende/imaginierende Frau zwischendurch auch mal von der Bühne abgeht. Selten genug, dass sie selbst Anteil hat am Geschehen: doch schön ist’s, weil poetisch, wenn sie zusammen mit der Bühnen-Senta, der sie immerhin nahe kommt, den Rahmen des Gemäldes des imaginären wie wirklichen Schwarzen Mannes berührt. Man sieht das Dilemma dieser ernsthaften Interpretation des frühen Wagnerschen Erlösungstheaters: Mit den heutigen Ideen weiblicher Emanzipation konfrontiert, zerschellt das Bühnenschiff an den Klippen einer Bühnenlogik, die weder ganz Traum noch ganz Wirklichkeit ist. Am deutlichsten wird dieses Dilemma im Finale: 1. sehen wir eine Senta-Attrappe von irgendeiner Höhe stürzen, 2. geht die Schauspiel-Senta von der Bühne ab und 3. bleibt die Opern-Senta auf der Szene. Dass hier die Traumhandlung beendet wird und die „reale“, nun wirklich von allen Phantasien emanzipierte Senta die imaginierte Handlung abbricht, weil ihr die Erlösungsmanie des Holländers definitiv zu weit geht: man ahnt es, aber man sieht es kaum. Drei Schlüsse aber sind so gut wie keiner. Dass angesichts von Wagners historischer Position in Sachen Frauenbewegung Fragen offen bleiben müssen, ist logisch, aber inszenatorisch nicht ganz so stark wie geplant. Man merkt’s auch an den Reaktionen und Nachgesprächen des Publikums. Tiefe Bewegung bleibt leider aus.

Und wo die Bürger schon – und auch diese Idee hat Kupfer schon ins Sentaspiel gebracht – Gespenster sind, machen die „echten“ keinen Sinn mehr – abgesehen davon, dass neben der Silhouette des Dalandschiffs der Schemen des Gespensterschiffs im Nebel des Grauens niemanden zu erschrecken vermag. Seltsam zweideutig bleibt die vorletzte Szene: die Zylinderträger mit ihren schwarzen Feströcken mögen mit den geschulterten Raben und deren glühenden Augen schön und gruselig aussehen – die Frage bleibt, zu welcher Sphäre sie eigentlich gehören. Aber vielleicht war dies ja auch eine gute Idee: wo die bürgerliche Gesellschaft dem vom Ausbruch träumenden Mädchen gespenstisch erscheint, weil die Subjekte dieser wie am kapitalistischen Schnürchen funktionierenden Gesellschaft marionettenhaft und uniform sind, gibt es keine realen Gespenster mehr. Denn sie sind und waren immer schon da.

Und trotzdem: man muss insgesamt nicht meckern noch mäkeln. Denn was ist schließlich wichtiger als irgendein „Konzept“ (vorausgesetzt, es erschlägt nicht die akustische Schicht)? Die musikalische Umsetzung. Dem Theater Hof ist nach dem „Rheingold“ von Anno 2005 endlich wieder ein Wagner-Abend geglückt, der der Vitalität des Hauses die besten Noten ausstellt. James Tolksdorf ist ein äußerst prägnanter Holländer, dessen artikulatorisch klarer Bariton so gut die Verzweiflungstöne des Monologs wie den Singspielton der Daland-Szenen draufhat (und man bedauert es von Neuem, dass Wagner neben seinen 13 Großwerken niemals eine echte Spieloper komponiert hat). Tolksdorf präsentiert einen sehr realen Holländer, keine Imagination einer stumm dastehenden Senta. Im Ambiente des Gruselbiedermeiers, das von der Kostümbildnerin Annette Mahlendorf und der Maske (Günther Schoberth) plastisch gemodelt wurde, ist er nicht der Gespenstischste. Artikulatorisch klar ist auch die Senta der Tanja Christine Kuhn – der einzigen Protagonistin, die nicht ein Gespensterweiß aufgelegt hat. Kuhn spielt nicht, diese erstklassige Künstlerin ist die Senta: bis zum letzten, dramatischen Ausbruch, dem die Regie misstraut. So geht die Wirkung ein wenig verloren, obwohl Tanja Christine Kuhn mit niemals nachlassender Klarheit und interpretatorischer Stärke an Ausdruck und Volumen ein höchst spannendes Charakterporträt einer durchaus nicht hysterischen Außenseiterin vorlegt. Ihre Ballade ist eben deshalb nicht nur grandios, weil T.C. Kuhn „schön“ singt (was ja auch schon einiges ist). Das vielleicht allzu bekannte Zugstück, die „große Nummer“, ist deswegen so bewegend, weil die Sängerin jedes Wort so nachvollzieht und ins Unmittelbare bringt, als erlebte sie gerade die Erzählung mit allen Sinnen.

Daneben steht der Erik des Alexander Geller: eine erstaunliche, kräftige wie lyrische Stimme, eine Gestaltung ersten Ranges, die den anderen Außenseiter innerhalb der maritimen Gesellschaft zur dritten, tragischen Hauptfigur macht – er ist es ja, inmitten der Dreiergeschichte, schon von der dramaturgischen Anlage her. Nur sieht und hört man es selten so deutlich wie in dieser Aufführung. Er und Tanja Christine Kuhn müssen niemals forcieren, um ihre existentiell bedrückenden Anliegen herauszubringen. Mit einem Wort: mit den drei Protagonisten gewinnt der Abend eine Kraft, angesichts derer mögliche Überlegungen zur modernen Deutung des Stücks fast unwesentlich werden.

Und der Daland? Er ist nicht schlecht, Rainer Mesecke singt ihn mit deutlicher Artikulation, aber im Vergleich zu den Bühnenpartnern klingt sein Bassbariton zu leichtgewichtig. Minseok Kim singt den Steuermann sehr, sehr gut, Stefanie Rhaue ist eine prägnant deklamierende Mary, die das Heer der 10 Spinnerinnen befehligt. Leider stehen sie jeweils hinter kleinen, nur den Kopf sichtbar machenden Fensteröffnungen, die akustisch ungünstig sind. Umso besser sieht man die vier von Barbara Buser choreographierten Damen von der Balletcompagnie (im Festbild des dritten Akts dann noch fünf weiße Robotertänzer), die – zur entzückenden Musik dieses Kollektivs – die Marionettenhaftigkeit der Spinnerinnen als Gespenster im Tutu konkret und passend zum Gespenstersujet vertanzen. Die Idee ist brillant, weil die Nähe des Holländer-Stoffs zur Gruselromantik eines E. T. A. Hoffmann – dessen Werke der junge Wagner verschlungen hat – offensichtlich ist. Die Erinnerungen an die Gliederpuppe Olympia aus dem „Sandmann“, damit auch zu einer anderen grandiosen Opernszene, sind intelligent, poetisch und ausreichend genug – auch wenn’s nicht jeder Theaterbesucher kapiert, weil er sich wieder mal nicht das preiswerte Programmheft gekauft hat. Die Idee ist schlecht, weil die Inszenierung hier die Sehnsüchte der Frauen einschichtig denunziert – als sei es spießig, sich in einer Zeit, da die Frau traditionell vom Ehemann abhängig war, so etwas Schnödes wie ein goldenes Armband zu wünschen. Wagners durchaus zärtliche wie heitere Musik aber ist, bei aller Imitation des Maschinenrhythmus, klüger als die gegenwärtige, durchaus verständliche, aber am Kern der Szene vielleicht doch vorbeigehende Ideologie- und Gesellschaftskritik, die ein Interpret an den Text heranzutragen vermag. Es geht auch anders, etwa wie bei Peter Konwitschny, der in Moskau und München die Spinnerinnenszene problematisierte, ohne die Frauen zu Zombies zu erklären, doch so geht es auch: szenisch durchaus interessant und doch immun gegenüber dem mehrdeutigen Ausdruck der Musik. Kommt hinzu der Umstand, dass die Musik vor der ersten Szene des 2. Akts eine Pause macht – man kann das, in Rücksicht auf die Blasen der Opernbesucher, die sich vor dem ersten Akt auf die Aufführung vorbereiten, indem sie größere Mengen Flüssigkeit in sich hineingießen, so machen, aber szenisch und musikalisch ist es, und wohl nicht nur für Bayreuther, eine unnötige Unterbrechung. Schlimmer aber ist, zumindest für Randsitzer, der Nacheinlass, der erst nach einer guten Viertelstunde eine relative Ruhe ins Haus bringt. Der Rezensent bittet inständig darum, diese Unsitte – im Interesse vieler Theaterbesucher – abzuschaffen.

Die Musik hebt mit der berühmten leeren Quinte an, schon der erste Ton geht orchestral in die Wasserhose, er schrillt ein bisschen wie der Männerchor, dessen Höhe an den Fortestellen leider aggressiv klingt, aber auch hier wird der Abend zeigen, was in den Hofer Symphonikern drinsteckt. Es ist es immer wieder erstaunlich, welche dramatischen Stürme, vor allem aber: welche sensiblen Linien unter Walter E. Gugerbauer erklingen. Auch in dieser Aufführung hört der Wagnerianer Sequenzen, die er garantiert noch nie gehört hat. Es spricht für Wagners Partitur, doch auch für die musikalische Interpretation. Plötzlich bestimmt in der Ouvertüre eine Bläserstimme den Verlauf, ohne die anderen Stimmen zu Nebenstimmen zu machen, das Signalmotiv durchläuft, kammermusikalisch abgestimmt, die Polyphonie, die Kontrabässe kündigen schon den „Lohengrin“-Ton an, und im Pianissimo der hohen Streicher wird die schönste Gespensteratmosphäre gemalt.

Eine schöne junge Frau liegt auf der Bühne. Was folgt, ist interessant genug, um – bei allen Fragen, die ihnen die Inszenierung nicht beantwortet hat, weil das Werk eben doch nicht von allen Opernfreunden so gekannt wird wie immer gemeint – die Zuschauer zu begeistern. Letzte Bitte: Bis zur nächsten Hofer Wagner-Inszenierung mögen nicht wieder ein Dutzend Jahre ins Land gehen. Sieben reichen völlig aus.

Frank Piontek, 22.10. 2017

Fotos: © H. Dietz, Hof