Wolfsburg: „Dog Without Feathers“

Deutschlandpremiere: 01. August 2019, besuchte Vorstellung am 03. August 2019

Beeindruckendes in neuer Spielstätte

Innerhalb von 9 Monaten ist es der Volkswagen AG gelungen, den Movimentos Festwochen 2019 vom 19. Juli bis 25. August einen passenden neuen Rahmen zu schaffen, nachdem das Kraftwerk wieder seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführt wurde. Das neue Gebäude „Hafen 1“ mit der Veranstaltungshalle (1650 qm), Schnürboden/Bühne (308 qm) und bis zu 1.400 Sitzplätzen umfasst außerdem mehrere Seminarräume variabler Größe. Der schlicht schwarz ausgeschlagene Saal und das graue, bequeme Gestühl sind praktikabel; etwas bedrückend sind die schwarzen Wände sowie graue Treppen und Böden im Foyer-Bereich. Da fehlen noch ein paar belebende Farbtupfer. Von der guten Ton- und Lichttechnik konnte man sich beim Besuch der brasilianischen Companhia de Danca von Deborah Colker überzeugen.

Zum dritten Mal nach 2005 und 2009 ist Deborah Colker, eine der bekanntesten brasilianischen Choreografen, mit ihrer 1994 gegründeten Companhia de Danca nach Wolfsburg gekommen. Sie hatte ihre neueste Arbeit „Dog Without Feathers“ (Uraufführung: 3. Juni 2017 in Recife) im Gepäck, mit der sie den Prix Benois gewann, einen der wichtigsten Preise der Tanzwelt überhaupt. Die vielseitige Choreografin inszeniert außerdem für Modepräsentationen, Musikvideos, Zirkus (u.a. Cirque de Soleil), Film und Shows. In den 80er Jahren lernte Colker den Lyriker João Cabral kennen, dessen Gedicht „O cão sem plumas“ (Hund ohne Federn) sie sehr beeindruckte; aber erst 2014 bei einem erneuten Blick darauf, kam die Initialzündung zu der neuen Choreografie. 1950 „entstand das Gedicht, das sich auf den Fluss Capibaribe in Pernambuco bezieht, aber von allen Flüssen auf der Erde spricht, von Flussbettbewohnern, von allen Ausgestoßenen, Vergessenen, den Randfiguren, von all jenen, die „anders“ sind. Ein universelles und zeitloses Gedicht, das leider auch heute noch seine Gültigkeit hat“ (aus einem Interview von Bernd Kauffmann mit Deborah Colker). Zur Interpretation hat Deborah Colker vier Sprachen eingesetzt: Tanz, Kino, Poesie und Musik, was an einigen Stellen zu viel gleichzeitig war, als z.B. die deutsche Übersetzung seitlich auf einem Bildschirm erschien und man dadurch zu sehr vom Tanz abgelenkt wurde.

Die 14 Tänzerinnen und Tänzer der Companhia leisteten Außergewöhnliches an Geschmeidigkeit, aber auch kräftezehrenden, akrobatischen Aktionen. In acht Szenen wurde das Leben in karger Landschaft bei Trockenheit und üppigem Wuchs bei großer Strömung des Flusses gezeigt, wobei die Übergänge nicht immer deutlich erkennbar waren. Vor Filmsequenzen im Hintergrund rollten sich die Akteure wie Lemuren auf die Bühne; schlammverschmiert ging es in katzenhafte, reptilien- und affenartige Bewegungsabläufe über, bis es nach einem fantastischen Solo fast zu einem rituellen Stammestanz mit rhythmischem Stampfen kam. Optisch fügten sich die realen Tänzer bestens in das Hintergrund-Video ein, unterstützt durch fabelhafte Lichtregie. Bald fügten sich die Körper zu einer häufig wiederkehrenden Figur, einem Krebs, der für das Leben im Fluss, aber auch für den Fluss des Lebens steht.

Wie Lianen herabhängende Bänder veränderten die Landschaft und führten zu lebendigem Wasser mit Mangrovenwäldern und -wurzeln. Letzteren ideal nachempfunden waren die körperlichen Verschlingungen und Bewegungen, die man gar nicht alle gleichzeitig erfassen konnte, bis sich der Krebs wieder bildete und ein weißer Reiher aus der Menschengruppe herausragte; später verdeutlichten drei Reiher mit zauberhaft eleganten Bewegungen Hoffnung auf besseres Leben der Wesen des Flusses. Höhepunkt des Abends war für mich die Szene mit Gehhilfen und Stöcken, die akustisch mit vorwärts drängendem Puls unterlegt war und den Tänzern zwischen den Bändern Höchstschwierigkeiten an Akrobatik und Exaktheit abverlangte.

Zum atemberaubenden Abschluss des Abends bildeten die Käfige (= Hütten am Fluss) die Ausgangslage für schlangengleiche Bewegungen und ausbalancierte Drehungen auf schräg gestellten Käfigecken. So aufeinander Rücksicht nehmend sollten Mensch und Natur immer miteinander umgehen.

Begeisterter Applaus des nahezu ausverkauften Hauses dankte den hervorragenden Künstlern und ihrer Choreografin

Marion Eckels, 04. August 2019

Fotos: © Matthias Leitzke