Wolfsburg: Zero Visibility Corp. (Oslo)

Besuchte Vorstellung am 02. Mai 2018, (Deutschland-Premiere am 01. Mai 2018)

Frozen Songs

Unter der künstlerischen Leitung der Choreographin Ina Christel Johannessen hat sich die 1996 von ihr gegründete, 2011 erstmals in Wolfsburg gastierende Compagnie „zero visibility corp.“ kontinuierlich weiter entwickelt. In Johannessens Choreographien geht es oft um Themen der aus den Fugen geratenen Welt, wie z.B. in dem Stück „Wasteland“ für das Göteborg Ballet, das 2015 in Wolfsburg erfolgreich war. Sie zeigt gerne Missstände auf oder versucht bedrohliches Weltgeschehen und höchst unterschiedliches, menschliches Verhalten auf unterhaltsame Art nahe zu bringen, nicht ohne dabei auch verstörende Assoziationen zuzulassen.

Die Anregung zur Choreographie Frozen Songs geht auf den „Svalbard Global Seed Vault“ („Weltweiter Saatgut-Tresor“) zurück, eine riesige Anlage, die 2008 auf Spitzbergen eröffnet wurde und von den Vereinten Nationen betrieben wird. Tief in einem Berg inmitten des Permafrost werden dort derzeit 80.000 Samen von über 5.200 Nutzpflanzen aufbewahrt. Es sollen Samen von bis zu 4,5 Millionen Pflanzen werden, die nach einem totalen Zusammenbruch von Natur und Menschheit durch Klima- und andere Katastrophen zur Quelle neuen Lebens werden könnten. (Wobei sich die Frage aufdrängte, ob auch tiefgefrorene, befruchtete Eizellen dort gesammelt werden zur Fortpflanzung der Menschheit.) Durch die Verbindung von Tanz mit Lichtdesign, Sound und Multimedia-Einspielungen sollte neben düsteren Visionen die Hoffnung auf das Überleben der Menschheit angesprochen werden, ein in unseren Tagen wieder hochaktuelles Thema.

Zwei Tänzerinnen und fünf Tänzer des hoch gewachsenen norwegischen Ensembles boten 90 Minuten lang körperlich Beachtliches. Besonders eindrucksvoll waren die punktgenauen Übereinstimmungen zwischen Tanzaktion und Sound. Johannessen arbeitete wieder mit den Stray Dogs zusammen (wie schon bei „Wasteland“), die mit viel Elektronik eine breite Geräuschskala von Samenrieseln bis zu wenig einprägsamen Melodien aufboten. Der Abend begann mit einer Sequenz, die tief im frostigen Berg spielte; vor einem Eiskristalle suggerierenden Plastik-Vorhang bewegten sich die Tänzer zu klirrenden Geräuschen eher torkelnd. Man hatte den Eindruck, dass nur Minimalberührungen mit anderen ihnen neue Kraft für unerwartete Bewegungen und Reaktionen einhauchten und sie vor dem Erfrieren bewahrten. Erster Höhepunkt war im Folgenden ein Pas-de-quatre (1 Dame, 3 Herren), der mit hoch artifiziellen Hebungen und Verschlingungen fast artistisch anmutete, aber kalt ließ.

Eine atemberaubende Gewitterszene zum Puls elektronischer Musik vor blitzezuckender Kulisse war ein weiterer Höhepunkt, wobei man durch das gewaltige Medienspektakel zu sehr von den Tänzern abgelenkt wurde. Ein Pas-de-deux bei Sonnenuntergang vor beweglichen, mannshohen Wellpappe-Wänden hatte da ganz andere Intensität. Als starken Kontrast gab es einen Video-Schneesturm, bei dem die Tänzer mit raumgreifenden Bewegungen eindrucksvoll über die Bühne fegten, dick vermummt gegen die Kälte, passend zu heulenden Wölfen im Sound. Vom Tanz her intensiver gelang daher eine Szene vor Hochhaussiedlungen im Abendlicht à la „West Side Story“.

Als Zwischenstopp fand per Mikrofon eine kurze Unterhaltung der Tänzer untereinander über die Problematik der Artenerhaltung per Samen oder Plastik statt mit Hintergrundbildern aus dem „Samen-Tresor“, wobei die Notwendigkeit des Projektes auf Spitzbergen untermauert wurde mit dem Fazit „Die Saat ist absolut sicher, was auch passiert.“ Was nun folgte, ließ mich ratlos zurück: Aus Silo-Trichtern strömte das Saatgut herab, Kisten wurden gebracht und ausgeleert; man tanzte auf den Samen, eine Tänzerin wurde unaufhörlich gefüttert, bis sie nicht mehr konnte; Magenkrämpfe waren offensichtlich die späteren Folgen. Ein sichtlich kranker Junge sang im Film ein ergreifendes Lied (übrigens sehr intonationsrein!), in dem er seine Mutter bat, ihn frei zu geben für den Tod. Nachdem hektisch gesät und der Erde das Gesammelte zurückgegeben wurde, dankten die Truppe mit empor gestreckten Armen; alles wurde schnell von aufschießenden Pflanzen aller Art überwuchert – ein eindringliches, versöhnliches Bild zum Schluss.

Insgesamt kam der Tanz gegenüber Medienvielfalt, Sound und Lichtdesign zu kurz. Ähnlich schien es dem Publikum zu gehen, das entgegen sonstiger Gepflogenheiten bei den „Movimentos“ eher nur höflich applaudierte.

Marion Eckels, 03. Mai 2018

Fotos: © Antero Hein (1), Zero visibility corp. (3)