Zürich: „Corpo Barocco“

Vorstellung am 14.10.2108

Nunzio Impellizzeri Dance Company

Trailer

Vorwort: Die hellenistische Statue Tanzender Satyr inspirierte Nunzio Impellizzeri so stark, dass sie zur Muse für sein neues Stück wurde. Die Figur mit Augen aus weissem Alabaster ohne Arme und mit nur einem Bein tanzt ungeachtet ihrer Unvollkommenheit. Das führt zur Frage, warum das Unvollkommene eine derartige Schönheit erzeugt. In einer Gegenwart, in der der Sinn für Schönheit zunehmend verfälscht wird, stellt der Choreograf den unvollkommenen Körper und seine Gesten in den Mittelpunkt. Die Körper der Tänzer begeben sich auf eine Reise, bei der Defekt, Anomalie und Ausnahme – typische Konzepte barocker Kunst – gemeinsam ein Synonym für Schönheit und Poesie bilden – Nunzio Impellizzeri Dance Company

Ganz aus dem Dunkel heraus, untermalt von den soghaften elektronischen Klängen von Selma Mutal und Tarek Schmidt, entsteht eine Choreografie von elementarer Wucht und archaischer, roher Kraft Corpo Barocco, konzipiert und choreografiert von Nunzio Impellizzeri, ausgeführt von nur fünf Tänzern.

Ausgehend von der Fragestellung, weshalb das Unvollkommene so faszinierend schön sein kann – siehe barocke Bilderwelt – entwickelt der Choreograph Nunzio Impellizzeri den 60 minütigen Abend, der die Zuschauer beinahe noch atemloser zurück lässt als die extrem geforderten Tänzer. Denn von ihnen verlangt Impellizzeri alles ab, gönnt ihnen keine Pause. Unaufhörlich rasen sie über die Bühne, zerreissen ihre Gesichter zu hässlichen Fratzen, stossen Zisch- und Schmatzlaute aus, stöhnen, schnaufen, verrenken sich, kämpfen, streiten, konkurrieren. Aber dann gibt es auch wunderbar poetische Momente, Augenblicke der Solidarität der Hässlichen, Anflüge einer männlichen Zärtlichkeit, die nicht kitschig wirkt.

Selbstverständlich sind die fünf Tänzer nicht hässlich, ganz im Gegenteil. Doch sie tun alles, bis zur kompletten Selbstaufgabe und Erschöpfung, um diesen Eindruck zu vermitteln. Sie wirken oft wie Gollum aus dem Herr der Ringe, selbstbezogen, rächend. So werfen sie zu Beginn Goldklumpen auf die Bühne, der frei verfügbare Raum wird dadurch zunächst für den Tanz eingeschränkt. Da diese Goldkissen immer wieder anders liegen, bewegt, gestossen werden, sind die fünf Tänzer auf Improvisation angewiesen – und auf tiefes gegenseitiges Vertrauen bei Bewegungen, Sprüngen, beim durch die Luft fliegen und beim Aufgefangen werden. Manchmal starren sie bewegungslos ins Publikum – und da man im Tanzhaus Zürich ganz nah dran sitzt, müssen sie, müssen wir als Zuschauer das erst mal aushalten.

Das ist beklemmend – und bannend. In diesem beinahe 40 Minuten dauernden, rasanten ersten Teil sind die Männer mit rätselhaften Kostümen aus dicken Schnüren bekleidet. Auch das hat etwas Archaisches, gleicht fast einem mittelalterlichen Kettenhemd, einer Art buntem Panzer, der irgendwann gesprengt werden muss. Und das tut er, die Tänzer entledigen sich hinter Säulen aus Milchglas ihres Schnurkostüms, bewältigen den zweiten Teil in weissen Shorts. Die Musik wird weicher, Vokalisen und Orgelklänge beherrschen nun die Klangwelt. Die Tänzer scheinen sich die Organe herauszureissen, zu tauschen, Blutsbrüderschaft der Hässlichen? Selbstverstümmelung? Die Schmatzgeräusche nehmen wieder zu, es wird ekstatisch getanzt, wie Derwische, beinahe bis zum totalen Zusammenbruch.

Am Ende ziehen sie sich alle unter eine Lampe zurück -das bezwingende Lichtdesign stammt von Marco Policastro – erneut wird eine Solidarität spürbar, eine Versöhnlichkeit. Die Atmung wird leiser, verklingt ins erneute Dunkel.

Das ist alles sehr bewegend und – ja, verstörend – umgesetzt. Doch man erliegt während einer Stunde einem Bann, einer Faszination, die man geradezu körperlich spürt. Grosser Applaus – es war dies leider schon die letzte von fünf Vorstellungen für die fünf exzellenten Tänzer Antonio Moio, Alessio Sanna, Claudio Costantino, Dominik Mall und Neil Höhener. Die haben wahrlich Bewundernswertes vollbracht – Hochleistungssport gepaart mit intensivem Ausdruck.

Neben der hochsubventionierten Compagnie des Ballett Zürich am Opernhaus gibt es in dieser Stadt also noch eine zweite Truppe, die um jeden Franken Unterstützung kämpfen muss. Diese tolle Truppe hat vermehrte Aufmerksamkeit des tanzinteressierten Publikums verdient, sie braucht den grossen Schatten des Ballett Zürich nicht zu fürchten – und für nicht mal einen Zehntel des Eintrittspreises des Opernhauses sitzt man ganz nahe bei den Tänzern, sieht jede Regung, jede Mimik. Ein intensives Erlebnis!

Wer die Aufführungen in Zürich verpasst hat, kann sich kurzentschlossen nach Neapel begeben, wo die Truppe vom 19. – 21. Oktober gastieren wird.

Kaspar Sannemann 20.10.2018