Zürich: „Der Sandmann“

Vorstellung am 4.6.2016

Eine Welt des Wahns, hervorragend musiziert

Mit der 2. Vorstellung von Christian Spucks „Der Sandmann“ kommt auch die zweite Besetzung zum Zug, und glänzt durch ausdrucksstarke Solisten.

Vor 10 Jahren wurde „Der Sandmann“ in Stuttgart uraufgeführt,

heuer ist die teuflisch-gute Tragödie erstmals in Zürich zu erleben. Das Bühnenbild (Dirk Becker) ist hauptsächlich in blau-grau gehalten, nur für die Kindheitserinnerungen schwebt eine blumige Tapete herunter, sowie für die Szene mit Olimpia ist im Hintergrund die erleuchtete Bibliothek von Spalanzani zu sehen. Sehr passend dazu die stilvollen Kostüme (Emma Ryott), die hauptsächlich in schwarz, dunkelblau, dunkelgrau und braungrün gehalten sind, einzig Olimpia hat ein violettes Tutu.

Schon in den letzten Produktionen von Christian Spuck konnte sich der Zuschauer davon überzeugen, Drama erzählen, das kann er! Und er verfügt über die Tänzerpersönlichkeiten, welche das Drama sehr gut vermitteln können, nicht nur in der Premièrenbesetzung, sondern wie man sich in der gestrigen Vorstellung überzeugen konnte, auch in der 2. Besetzung. Spuck kennt die Stärken seiner Tänzer und choreographiert ihnen akrobatische Elemente auf den Leib, gekonnt kombiniert mit dramatischem Ausdruck.

Der Held der düsteren Geschichte ist Nathanael (hervorragend: Alexander Jones), welcher regelmässig von Erinnerungen an die traumatische Begegnung mit Coppelius (dämonisch: Wei Chen) in seiner Kindheit eingeholt wird und als Student des Öfteren neben sich steht. Sehr passend dazu die gesittet-biedere, aber dennoch anmutige Verlobte Clara (Elizabeth Wisenberg) und seine Freunde Lothar und Siegmund (Christopher Parker und Daniel Mulligan), welche immer wieder versuchen, ihn aus den Wahnvorstellungen in die Realität zurückzuholen. Als Nathanael zum ersten Mal Coppola (Manuel Renard) begegnet, projiziert er gleich seine Erinnerungen an Coppelius auf diesen, lässt sich beim zweiten Mal jedoch ein Perspektiv andrehen, durch welches ihm die Puppe Olimpia (Anna Khamzina) als Mensch erscheint. Spalanzani (Dmitry Khamzin), der Hersteller von Olimpia, lässt diese beim Ball tanzen. Nathanael beobachtet später Coppola und Spalanzani streitend um Olimipas Augen und möchte Olimpia retten. Spalanzani nimmt ihm das Perspektiv ab und Nathanael wird über die Erkenntnis, einen Automaten geliebt zu haben, wahnsinnig. Als er später mit Clara unterwegs ist und Coppola erneut sieht, setzt er das Perspektiv wieder auf und sieht Olimpia in Clara, die in letzter Minute von Lothar und Siegmund gerettet wird, seine Wahnvorstellungen nehmen Überhand und er stirbt.

Alexander Jones, welcher schon als sehr souveräner Schwanensee-Prinz das Zürcher Publikum für sich gewonnen hat, zeigt als Nathanael nicht nur die geschmeidige, sichere Technik eines Ersten Solisten, sondern vor allem eine packende Darstellung, wo es in einigen Momenten nur kleiner Gesten bedarf, um die Wahnvorstellungen überzeugend, aber nicht übertrieben zu vermitteln. Als seine Verlobte Clara erinnert Elizabeth Wisenberg mit ihrer Anmut an Grössen wie Alina Cojocaru, aber auch Karine Seneca, die zu Spoerlis Zeiten für zahlreiche Sternstunden garantierte. Wer weiss, welche Partien sich demnächst für die junge, technisch überaus solide Solistin ergeben werden… Sensationell ist Anna Khamzina als Olimpia, welche es geradezu mühelos schafft, während all ihrer Auftritte denselben Gesichtsausdruck zu präsentieren, als wäre sie wirklich eine Puppe, und daneben einige akrobatische Einlagen absolviert. Umso „lebendiger“, warmherziger ist die Mutter (Irmina Kopaczynska) zusammen mit Jesse Fraser als Vater, während Wei Chen und Manuel Renard als jeweilige Bösewichte zwar ähnliche Elemente tanzen (köstlich die langen, kreisenden Finger!), jedoch jeder differenziert auf seine Art und Weise das Dämonische darstellt.

Das Corps de Ballet agiert grösstenteils sehr harmonisch.

Kongenial zu dem Drama spielt die Philharmonia Zürich unter der Leitung von Riccardo Minasi, sowie Adrian Oetiker am Klavier und die Orchestersolisten Bartlomiej Niziol, Xiaoming Wang, Karen Forster und Xavier Pignat. Es ist immer sehr erfreulich, wenn Ballettvorstellungen auch durch das derart hohe Niveau des Orchesters nochmals an Attraktivität gewinnen, in Zürich ist dies seit Jahren besonders der Fall, egal ob sie Schnittke oder Klassiker, wie Tschaikowsky und Co. Spielen.

Folgevorstellungen: 9.,11., 12., 26. und 30. Juni 2016

Katharina Gebauer 6.6.16

(c) Carlos Quezada