Brüssel: „Macbeth Underworld“

Als Start einer innovativ-neuen „Spielplanarchitektur“ eine fantastisch gut gelungene Uraufführung.

Wie sieht die Oper von morgen aus? In allen Symposien und Diskussionsrunden hören wir seit 25 Jahren: „Uraufführungen von neuen Werken“. Denn es macht inzwischen wenig Sinn, um die bekannten Werke statt „werktreu“ immer wieder neu interpretieren/inszenieren zu wollen, indem man inzwischen schon „neuartig“ in die Handlung eingreift und andere Musik hinzufügt. Doch wenn man auf die Spielpläne der großen Opernhäuser guckt, sind Uraufführungen immer noch eine Seltenheit, außer in Amsterdam, wo Pierre Audi in seiner 30-jährigen Amtszeit einen Weltrekord von szenischen Uraufführungen aufgebaut hat. Peter de Caluwe, langjähriger Mitarbeiter von Pierre Audi in Amsterdam und seit 2007 Intendant der Oper in Brüssel, stellt nun zum Beginn seiner dritten Amtszeit eine völlig neue „Spielplanarchitektur“ vor. Er erläutert diese in einem Manifest-Buch „Opéra, Passion(s) et controverse(s)“, niedergeschrieben durch den Journalisten Stéphane Renard, das wohl ins Niederländische aber leider nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Denn es zeigt, wie anders man das Thema Oper angehen kann, als wie (noch) im deutschen Sprachraum üblich. Peter de Caluwe erklärt darin u.a., warum er in den nächsten sechs Jahren jede Spielzeit mit nicht nur einer sondern sogar zwei Uraufführungen eröffnen wird.

Die erste dieses Jahr ist „Macbeth-Underworld“ von Pascal Dusapin (1955 in Nancy geboren), den man in Brüssel nicht mehr vorzustellen braucht, denn er debütierte hier 1992 als Opernkomponist mit „Medeamaterial“ von Heiner Müller (1990). Von seinen inzwischen 8 Opern wurden 5 an der Monnaie/Munt (ur)aufgeführt. Dusapin verarbeitet darin meistens tragisches Material auf eine eigene, oft neuartige Weise. Auch hier, wo er das Drama von Shakespeare mit seinem Librettisten Frédéric Boyer quasi aus dem Rückblick neu beleuchtet. Macbeth und seine Lady blicken aus der „Unterwelt“ (halb Hölle, halb Schlupfwinkel für Kriminelle) zurück auf ihre Missetaten, die sie chronologisch/thematisch noch einmal in acht Alptraum-Szenen wieder-erleben & -spielen und überdenken. Der Leitfaden ist origineller weise ihr Kind, das bei Shakespeare kaum erwähnt wird und das mir in den vielen mir bekannten „Macbeth“-Bearbeitungen noch nie begegnet ist. Bei Shakespeare wissen wir nur, dass Lady Macbeth einst ein Kind an ihre Brust gehalten hat (ohne Erwähnung des Vaters) und dass Macbeth sich beklagt: „Upon my head they placed an unfruitful crown, (…) no son of my succeeding“. Bei Dusapin erfahren wir, wer dieser Sohn vielleicht gewesen ist und wie das glückliche Familienleben vielleicht einmal ausgesehen hat. Bis ganz am Ende, in der Schlacht von Dunsinane, Macbeth nicht Macduff und dem bewegenden Wald von Birnham gegenübersteht, sondern seinem Kind, das er nicht töten kann und will, weil es wie ein Racheengel vom Himmel zu ihm in die Unterwelt kommt, wo alle Tyrannen früher oder später bestraft werden. Also mehr „das Gespenst eines Stückes“ als ein Bühnenwerk und dementsprechend nicht leicht zu inszenieren…

Nach einem Regisseur wurde offenkundig lange gesucht, bis wahrscheinlich die beiden Koproduzenten, die Opéra Comique in Paris und die Opera de Rouen-Normandie, den jungen französischen Regisseur Thomas Jolly vorschlugen, der dort vor zwei Jahren einen sehr gelungenen „Fantasio“ von Offenbach inszeniert hat und als Sprech-Theaterregisseur ein ausgewiesener Shakespeare-Kenner ist. Und als solcher hat er maßgebend zum Erfolg des Abends beigetragen. Denn solche Uraufführungen werden heute meist folgendermaßen inszeniert : im französischen Sprachraum in einem elegant-abstrakten Bühnenbild („wie die Musik“), in dem die Hauptprotagonisten vorne in einem Bett liegen (Krankenhaus oder Irrenanstalt) und hinter ihnen – „sie träumen ja nur“ – die Handlung ebenso abstrahiert per Film oder Tanzt abläuft (viele Opern von Dusapin wurden an Choreografen vergeben). Im deutschen Sprachraum wird eher alles überbordend bebildert und kommentiert („wie der Text“), also „aktualisiert“ mit Bezügen aus den Tagesnachrichten zu Gewalt, Blut, Sexualität, Waldsterben etc. Thomas Jolly und sein Team ließen jedoch diese Verlegenheitslösungen links liegen und inszenierten das Stück aus seiner ursprünglichen Materie, aus Shakespeares Welt. Nicht nur „Macbeth“, denn es gab (wenn ich mich nicht irre) auch Fragmente aus „King Lear“ und den „Sonnetten“. Sie erfanden aus dem Nichts eine Drehbühne mit einem Wald von umgestürzten Bäumen – in quasi jedem Stück von Shakespeare gibt es einen Sturm, bei dem die Welt aus ihren Fugen gerät – mit einem Schlosstor & Turm und eine Serie von Treppen, die Handlungsabläufe ermöglichten. Das ist eine großartige künstlerische Leistung und selten habe ich einem jungen Regisseur ein solches Kompliment gemacht: er und sein Team haben kongenial mehr aus dem Stück gemacht als in der Vorlage stand. Ein großes Lob also für das bildschöne und intelligente Bühnenbild von Bruno De Lavenère, die dazu passenden Shakespeare-Kostüme von Sylvette Dequest und die fantastisch atmosphärische Beleuchtung von Antoine Travert . Und noch ein Extra-Lob an Thomas Jolly und seinen künstlerischen Mitarbeiter (ursprünglich Schauspieler)

Alexandre Dain für die exzellent durchdachten theaterwirksamen Handlungsabläufe und Personenführung.

Kongenial war auch das Dirigat von Alain Altinoglu, Musikdirektor der Monnaie/Munt, den man in Wien seit „Les Troyens“ wohl nicht mehr vorzustellen braucht. Er ist auch ein Dusapin-Kenner, denn er hat schon 4 seiner Opern (ur)aufgeführt. Und diese sind weiß Gott nicht einfach für einen Dirigenten. Denn Dusapin ist hochbegabt, schöpft aus dem Vollen und tritt manchmal in manches Fettnäpfchen, weil er einfach alles kann. Die Oper beginnt mit einem hollywoodartigen Orgelklang, der erst massiv ausgearbeitet wird und dann durch kleine Schottische Volkslieder unterbrochen wird, die a capella durch eine „Archilaute“ aus Shakespeares Zeiten gespielt werden.

Auf den quasi hauchdünn gehauchten Hexenchor des exzellenten Frauenchors folgt ein „Requiem“ mit Verdi-Allüren etc. Und in manchen Szenen komponiert Dusapin quasi gegen seinen eigenen Text, um das Unbehagen der Situation noch zu verstärken. Damit macht er es seinen Interpreten und auch dem Publikum oft nicht leicht. Doch Alain Altinoglu schaffte es, dies alles unter einen Hut zu bringen, spannte große Bögen und dirigierte zu gleich so subtil, dass er mit dem exzellenten Symphonieorchester der Monnaie/Munt (mit dem es sich offensichtlich sehr gut versteht) alle Hürden der Partitur musikalisch elegant mühelos nehmen konnte. Auch er holte vielleicht noch mehr aus dem Stück als in den Noten stand.

Die Sänger wurden sehr gefordert, von extrem tief bis extrem hoch, von sehr jung (10 Jahre) bis sehr alt (77 Jahre). Doch alle meisterten ihre fordernden Rollen souverän. Der in zwischen 77-jährige Tenor Graham Clark eröffnete den Abend als Hexenmutter Hecate, bevor die Three Weird Sisters (es wurde auf Englisch gesungen von tiefen G bis zum hohen F der Königin der Nacht) Ekaterina Lekhina, Lilly Jorstad, Christel Loetzsch das Ruder übernahmen. Der Bariton Georg Nigl war ein starker Macbeth, doch auch er stand – wie die Figur es nun einmal will – im Schatten seiner ehrgeizigen Frau. Magdalena Kožená beherrschte den Abend als schillernde Lady Macbeth, hier mehr junges Mädchen und trauernde Mutter als machtgierige Königin. Dusapin hatte ihr die Rolle offensichtlich in die Kehle geschrieben und sie konnte als Einzige mit ihren vielen Arien ein wirklich persönliches Rollenprofil aufbauen. Uns hat der Wagner-Sänger Kristinn Sigmundsson als Ghost besonders gefallen und vor allem Elyne Maillard als Child. Das kaum zehnjährige Mädchen aus dem Brüsseler Kinderopernchor, das quasi in jeder Szene auftrat, sang sicher und berührend, dass bei dem Schlussapplaus der Komponist und der Dirigent sie spontan in ihre Mitte nahmen. Das wirkte wie symbolisch und man braucht keine Hexe zu sein, um diesen „Macbeth“ in der Oper von morgen eine Königs-Krone vorherzusagen.

Fotos (c) Matthias Baus

Waldemar Kamer 2.10.2019

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