Heilbronn: „Saul“

Saul mit den gängigen Mitteln des Regietheaters demontiert

Da Händel nur vierzig Opern geschrieben hat, müssen, um der Nachfrage zu genügen, auch seine Oratorien in Szene gesetzt werden. Saul eignet sich da so gut wie auch einige andere Stoffe, deren dramatischer Gehalt wesentlich zwingender ist als der von vielen seiner Opern. Von dem einigermaßen stringenten originalen Handlungsstrang in Charles Jennens‘ Libretto zu Saul wollen allerdings die Regisseurin der vorliegenden Produktion Lydia Steier und die Produktionsdramaturgin Katharina Ortmann nicht viel wissen. Erst wird „interessewahrend“ von drei auf zwei Stunden gekürzt und für den Rest wissen sie vieles besser und anders: Dekonstruktion total. Das Oratorium wird kräftig gegen den Strich gebürstet; um fatale Reibungen mit dem Text ist es dem Inszenierungsteam dabei nicht bange.

Dabei hat die Inszenierung, nach welcher der Titel des Opernoratoriums infolge der Kürzungen eigentlich „David“ hätte heißen müssen, durchaus einige Ideen mit Substanz. Aber summa summarum muss man attestieren: „Thema verfehlt“. Denn während in dieser Inszenierung die Zeichnung des David und seiner Entwicklung als selbstbewusster Usurpator in origineller Weise gelingt, wird die Rolle des Saul so brutal zusammengeschnitten und verkürzt, wie es nicht in der Intention des Librettisten und des Komponisten gelegen haben kann. Denn in dem Oratorium geht es eigentlich um Saul und dessen innere Kämpfe.

Ensemble

Zunächst reibt man sich die Augen. Zum ersten Bild hat Katharina Schlipf ein Bühnenbild gebaut, dass an eine veritable Barockbühne erinnert: Kulissen imaginieren einen prächtigen Festsaal; in Hintergrund ein großer roter Vorhang, der beim Zutritt des Personals jeweils aufgezogen wird; darüber thront vor einer wolkigen Soffitte der König Saul in der Pracht des Sonnenkönigs. Im Saal wogt festlich gewandetes Feiervolk. Es versteht sich im modernen Theater, dass solche Pracht nicht dauerhaft und selbst die Persiflage des Königs nur hohl ist. David (nach der gewonnenen Schlacht und der Tötung von Goliath) wird auf einem großen Rappen (real) thronend hereingeschoben. Stocksteif schaut er über die Anwesenden, von denen ein Teil ihn so bejubelt, dass König Saul eifersüchtig wird und Davids Tötung betreibt, obwohl er ihm zunächst seine Tochter Merab als Lohn für seine Heldentaten zuschanzen will. Diese akzeptiert aber den Bauernlümmel nicht. Nach erneutem Schlachtgewinn soll David dann die andere Tochter Sauls, Micha zum Weibe bekommen, die ihm auch wirklich zugetan ist. Inzwischen ist das Bühnenbild demontiert und vermüllt, der rote Vorhang weggerissen. Dahinter steht nur ein hundsgemeiner 40“-Container, auf welchem wieder der inzwischen mental demontierte König als traurige Gestalt hockt. Auch die zunächst opulenten Rokokokostüme vom Ursula Kudrna gehen den Weg der Inszenierung, werden abgelegt und demontiert. Lediglich der verblendete Titelheld behält sein Rokokoornat bis zum Schluss an, während alle anderen schon entweder ihre Perücken oder Obergewänder oder beides abgelegt haben und den Verfall der Feiergesellschaft dokumentieren.

im der Mitte: Magid El-Bushra (David) mit Chor, im Hintergrund: Saul (anderer Darsteller)

Neben Sauls Tochter Michal himmelt auch dessen Sohn Jonathan David an. Aber beide werden von diesem gefühllosen Wesen rüde behandelt. Michal wird in den Container geschleppt und dort von David vergewaltigt, woraufhin sich der homoerotische Jonathan an der Tür des Containers in rasender Eifersucht den Kopf einrennt. König Saul, der ständig unter den Einflüsterungen von „Neidteufeln“ steht (von der Regisseurin erfunden), kommt noch einmal zu Herrschergebaren. Jonathan hatte seinen Befehl, David zu töten, nicht befolgt. Zur Strafe wird er von seinem Vater zu Tode getreten. Merab ersticht aus irgendwelchen Gründen ihre Schwester Michal und erhängt sich dann im Container. Nachdem auch Saul auf eine Weise umkommt, die nicht vom Libretto vorgeschlagen ist, hat sich die Familie Saul ohne Fremdeinwirkung und teilweise auch ohne ersichtlichen Anlass ausgelöscht. Der von der Hexe von Endor beschworene Samuel hatte Saul ein anderes Ende vorhergesagt. Finesse lässt die Regisseurin bei ihrer Inszenierung als letztes walten. Dem Zuschauer wird nicht zugetraut, Andeutungen zu verstehen. Fragen oder Zweifel bleiben nicht offen. Auch scheint sie mit Inszenierungsstereotypen zu arbeiten. Davids Rappen, dem zum Schluss leider der Kopf abgerissen worden war trat schon als Schimmel in Steiers Finta Giardiniera auf, wo auch dieser in den Endturbulenzen des Geschehens sein Haupt einbüßte. Dort traten auch begleitende hinzuerfunden Personen auf: statt der Neidteufel im Saul die Amoretten. Genau diese Begleitpersonen, hier die Neidteufel – und das ist einer der besten Einfälle der Inszenierung – sitzen zum Schluss neben dem gar nicht mehr so souveränen Macho David oben auf dem Container und reizen ihn, der nun schon vor dem nächsten David zittert.

Jonathan, zu Tode getreten

Das ganze Horrorinstrumentarium der Oldenburger Vorstellung konnte in Heilbronn nicht auf die Bühne gebracht werden, weil sie über weniger Platz verfügt als die damalige Oldenburger Ausweichspielstätte in der Halle des ehemaligen Fliegerhorsts. Aber vielleicht inspirierte die Fliegerhalle andrerseits zu den wenig erhebenden Darstellungen. Diese Produktion des Staatstheaters Oldenburg erhielt 2012 eine Nominierung für den Faust in der Kategorie "Beste Musiktheaterinszenierung des Jahres" nominiert.

Da war man mit der musikalischen Seite des Abends unbestreitbar besser dran. Als ein Pluspunkt des Abends muss die Orchesterleistung gewertet werden. Ein Ensemble aus dem Oldenburgischen Staatsorchester unter der Leitung von Thomas Bönisch produzierte dem Thema entsprechend einen virilen, gut strukturierten Händel und musizierte klangschön mit schärfender Präzision und Prägnanz. Für die größten musikalischen Momente des Abends sorgten Chor und Extrachor des Oldenburgischen Staatstheaters (Einstudierung ebenfalls Thomas Bönisch), obwohl die Damen in sehr hohen Passagen etwas schrill klangen.

Ensemble

Der Niederländer Mattijs van de Woerd gab die Titelrolle. Außer durch sein überzeugendes Spiel gefiel der von den Neidgeistern immer mehr Geplagte auch mit seinem klaren sonoren Bassbariton von bester Textverständlichkeit. Der aus dem Sudan stammende Counter Magid El-Bushra sang den David mit sehr hellem, leuchtendem und dennoch kräftigem Altus präzise und textverständlich. Der Jonathan von Michael Pegher brillierte mit seinem schönen hellen und beweglichen Tenor und gefiel auch schauspielerisch in der Rolle des verzweifelten Jünglings. Unter seinen Schwestern wies Inga-Britt Anderson als Merab einen schönen etwas eingedunkelten Sopran auf und meisterte mörderische Koloraturen, während der hellere Sopran von Mareke Freudenberg als Michal in der Höhe etwas eng und spitz wurde.

Wie aus dem oben Geschriebenen ersichtlich, gefiel Ihrem Kritiker die Inszenierung nicht. Aber zu dessen allergrößtem Erstaunen brach das sehr gesetzt wirkende Publikum aus dem nordwürttembergischen Grenzgebiet nach der Vorstellung in begeisterten, langanhaltenden Beifall aus. Saul kommt in Heilbronn noch zweimal, am 13. und am 14. April.

Manfred Langer, 12.02.2013
Fotos der Premierenserie aus Oldenburg: Andreas J. Etter