Landshut: „Die schöne und getreue Ariadne“, Johann Georg Conradi

Premiere am 25. 4. 2014 in Landshut (am 12.04. in Passau)

Im Labyrinth des Ichs – Eine echte Rarität

Er könnte heute vielleicht als einer der ersten Komponisten der Musikgeschichte gelten, falls sein Gesamtwerk überlebt hätte: Johann Georg Conradi (1645-1699), der als Kapellmeister zuerst an den Höfen von Ansbach und Römhild wirkte, bevor er schließlich 1690 das Amt des musikalischen Direktors an der Hamburger Oper am Gänsemarkt übernahm. An diesem schon damals berühmten Haus, an dem später ja auch Keiser, Händel, Matheson, Graupner und Telemann wirkten, führte er zahlreiche französische und italienische Bühnenwerke auf. Als Opernkomponist trat er ebenfalls weiter in Erscheinung. Eine seiner für Hamburg geschriebenen deutschen Barock-Opern war „Die schöne und getreue Ariadne“, die auf einem Libretto von Christian Heinrich Postel beruhend 1691 am Theater am Gänsemarkt erfolgreich aus der Taufe gehoben wurde, aber seit 1740 mit all den anderen zahlreichen Opern Conradis als verschollen galt.

Roland Schneider (Evanthes/Bacchus), Mandie de Villiers-Schutte (Ariadne)

Das Wiederauftauchen der „Ariadne“-Partitur gleicht einem kleinen Abenteuerroman. Der bereits vor einigen Jahren verstorbene Bostoner Musikwissenschaftler George Buelow hat sie im Jahre 1970 an keinem geringeren Ort als der Library of Congress in Washington D. C. wiederentdeckt – schleierhaft ist, wie sie den Weg von Deutschland nach Amerika gefunden hatte – und war auf Anhieb von ihr begeistert. Im Folgenden setzte er alles daran, die „schöne und getreue Ariadne“ wieder auf die Bühne zu bringen. Seine Bemühungen waren von Erfolg gekrönt. Zu einer ersten konzertanten Aufführung in den USA kam es zu Beginn dieses Jahrhunderts in Boston. Jetzt ist auch das Landestheater Niederbayern auf dieses hoch interessante Stück aufmerksam geworden und hat ihm eine beachtliche Neuproduktion gewidmet. Nach der Premiere in Passau am 12. 4. wurde die „Ariadne“ nun auch dem Landshuter Publikum erstmals präsentiert und ist bei diesem auf große Zustimmung gestoßen.

Emily Fultz (Phädra), Mandie de Villiers-Schutte (Ariadne), Albertus Engelbrecht (Theseus)

Das ist nicht weiter verwunderlich, denn Conradis Musik ist sehr ansprechend. Sie schließt eine bisher aus Mangel an Material nur wenig erforschte Lücke in der Operngeschichte zwischen Monteverdi und Händel. Insoweit ist diese Wiederentdeckung auch von enormer historischer Relevanz. Man kann gut verstehen, dass die Oper damals beim Hamburger Publikum begeistert aufgenommen wurde. In einer Zeit, als am Gänsemarkt in erster Linie französische Opern das Repertoire dominierten, muss die in der „Ariadne“ verwendete Stilmischung für großes Aufsehen in der Musikwelt gesorgt haben. Conradi kombiniert mit großem Geschick italienische, französische und deutsche Elemente. Mit der Vielzahl an kleinen bis kleinsten Arien und Ariosi knüpft er gekonnt an die italienische Tradition an. Bei der Ouvertüre und den vielfältigen Tänzen (Chaconne, Passacaglia) werden nachhaltig französische Einflüsse hörbar. Und insbesondere das Geplapper des komischen Dieners Pamphilius in seiner volksliedhaften Scherenschleifer-Arie ist eindeutig deutscher Natur. In die Richtung von Letzterem gehen auch die bemerkenswerten accompagniato-Rezitative, in denen man schon Bach vorausahnen kann. Es ist ein eindrucksvolles Potpourri verschiedener Stile, das Conradi hier gelungen ist. Die Musik ist kraftvoll und emotional angehaucht. Ein Novum stellte damals die vielfältige Verwendung von kleinen Ensembles, Duetten und Terzetten dar. Auch heute macht dieser für Barockopern eher seltene Fakt die „Ariadne“-Partitur interessant. Reichlich willkürlich mutet indes Conradis Behandlung der Tonarten an, die er tüchtig und konzeptionslos durcheinander wirbelt. Auch von einer „Kunst des Übergangs“, wie es Wagner, dessen Geburtstag und Conradis Todestag auf dasselbe Datum, den 22. Mai, fallen, später so trefflich formulierte, scheint Conradi noch keine große Ahnung gehabt zu haben. Augenscheinlich war die Harmonielehre damals noch nicht weit fortgeschritten. Den hohen Gehalt des Werkes insgesamt vermögen diese kleinen Einschränkungen aber nicht zu beeinträchtigen. Und bei Kai Röhrig und der Niederbayerischen Philharmonie war das Werk in besten Händen. Der von ihnen erzeugte barocke Klangteppich zeichnete sich durch große Intensität und eine ausgeprägte Farbenpalette aus.

Oscar Imhoff (Pamphilius), Roland Schneider (Evanthes/Bacchus), Wolfgang Frisch (Pirithous), Albertus Engelbrecht (Theseus)

Die Handlung knüpft an die griechische Mythologie an: König Minos von Kreta und seine Frau Pasiphae beabsichtigen, ihre Tochter Ariadne mit dem sie liebenden Prinzen Evanthes zu verheiraten, unter dessen Maske sich der Gott Bacchus verbirgt. Die kretische Prinzessin interessiert sich aber viel mehr für den Athener Theseus, der es wiederum auf ihre Schwester Phädra abgesehen hat und für den Ariadne lediglich Mittel zum Zweck ist, den Minotaurus zu töten. Zusammen mit seinen Begleitern Pirithous und Pamphilius gelingt ihm dieses Vorhaben. Mit Ariadnes sprichwörtlichem Faden finden die Gefährten wieder aus dem Labyrinth heraus. Von Dank kann indes keine Rede sein. Theseus lässt Ariadne einfach sitzen und sucht mit Phädra das Weite. Nun hat Evanthes freie Bahn. Er gibt sich der trauernden Prinzessin als Bacchus zu erkennen, die nun ihre Liebe zu ihm entdeckt und von ihrem Schmerz Erlösung findet. Venus gibt dem Paar ihren Segen.

Roland Schneider (Evanthes/Bacchus), Albertus Engelbrecht (Theseus)

Regisseur und Choreograph Jonathan Lunn nähert sich dem Stoff erfreulicherweise von einem modernen Ansatzpunkt aus. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er kein altbackenes, verstaubtes Barock-Ambiente auf die Bühne bringt, sondern dem Ganzen gekonnt einen zeitgenössischen Rahmen verpasst. Alexandra Burgstaller, von der auch die gelungenen Kostüme stammen, hat ihm einen kargen, nüchtern und steril anmutenden weißen Einheitsraum auf die Bühne gestellt, der von Wänden, Türen und einem riesigen Kastenschrank eingenommen wird. Mit Hilfe der Drehbühne sind schnelle Ortswechsel möglich. Das hier angewandte Baukastenprinzip ist durchaus überzeugend. In diesem visuellen Umfeld agieren die Handlungsträger in zeitgemäßen Klamotten wie Jeans, Pulli, schwarzem Lack und Leder. Die langen, fließenden Kleider der Damen haben einen recht erotischen Zuschnitt. Lunn gelingt eine treffliche Herausarbeitung der zwischenmenschlichen Beziehungen und Konflikte. Dabei wendet er auch Brecht’sche Elemente an. Der elegante Anzugträger Minos und sein Hofstaat betreten durch den Zuschauerraum die Bühne. Der Auftritt von König und Königin wird zu einem spektakulären Medienereignis, das von Kameras auf Bildschirme und Monitore übertragen wird. Auch sonst setzt der Regisseur vielfach ansprechende Filmprojektionen ein. Als Waffen dienen nicht altmodische Schwerter, sondern Pistolen. Die choreographischen Einlagen waren von modernem Ausdruckstanz geprägt. Überzeugend geriet auch der geistig-innovative Gehalt, den Lunn seiner Interpretation angedeihen ließ: Er deutet die Handlung als Selbstfindungstrip Ariadnes, als Reise in ihr verflochtenes Inneres, die schließlich ein neues Ich in ihr hervorbringt. Der Ariadne-Faden ist in Anlehnung an Sigmund Freud als Nabelschnur zu verstehen, den die Kretische Königstochter symbolisch durchtrennt, um am Ende mit Bacchus ein neues Leben beginnen zu können. Das alles war gut durchdacht und überzeugend umgesetzt.

Gesche Geier (Pasiphae), Peter Tilch (Minos), Statisterie

Bleibt noch die gesangliche Seite. Und hier stand es nicht gerade zum Besten. Von allen Sängern vermochte lediglich der kraftvoll und mit guter Stütze seines Tenors singende Albertus Engelbrecht in der Rolle des Theseus zu gefallen. Er ließ alle seine Partner weit hinter sich. Mandie de Villiers-Schutte vermochte als Ariadne rein darstellerisch mit impulsivem Spiel durchaus zu gefallen. Indes hätte ihr Sopran erheblich besser im Körper sitzen können. Nicht nur bei ihr, sondern auch bei Emily Fultz’ Phädra stellten sich aus diesem Grund in der Höhe manchmal einige recht grelle Töne ein. Auch der Sopran von Gesche Geiers Pasiphae mangelte es an sonorer Fülle und Rundung der Stimme. Eine solide italienische Technik gingen dem oft halsig intonierenden Minos Peter Tilchs und dem sehr dünnstimmigen Pirithous von Wolfgang Frisch ebenfalls ab. Oscar Imhoff sprach als rein äußerlich köstlicher Pamphilius mehr als dass er sang. Schauspielerisch ein wahres Kabinettstückchen machte der Countertenor Roland Schneider aus dem sympathischen Brillenträger Evanthes, der am Schluss seine etwas bübchenhafte Seite ablegt und zum kraftvollen Gott des Weines mutiert. Wohl aus praktischen, ensembletechnischen Gründen wurden die kleinen Partien von Venus, Grazie, Satyr und Bacchant von den Damen und Herren Geier, Fultz, Tilch und Frisch übernommen. Insgesamt waren die vokalen Leistungen an diesem Abend unzureichend, was man nach den insgesamt toll gesungenen „Pirata“ und „Rigoletto“ nicht erwartet hätte. Aus dem Tanzensemble gefielen Gareth Mole, Bernadette Leitner und Anja-Carina Maisenbacher.

Fazit: Diese Oper ist eine echte Rarität. Sie hat es verdient, wieder bekannt zu werden und sollte von anderen Häusern unbedingt nachgespielt werden.

Ludwig Steinbach, 28. 4. 2014
Die Bilder stammen von Peter Litvai.