Lüneburg: „Neues vom Tage“, Paul Hindemith

Zeitgeist-Oper im wörtlichen Sinn

„Neues vom Tage“ spielt in einer deutschen Großstadt. Diese wird nie sichtbar, aber man hört sie gleich in den ersten Takten des Opernvorspiels: Das Orchester produziert verwegene Klangstrukturen, aus denen man wild hupende Autos, vorbeirauschende Trambahnen, durcheinanderwuselnde Passanten herauszuhören meint. Und so führt die Musik den heutigen Hörer wie von selbst zu den zwei erstaunlich aktuellen Bedeutungssphären, die Hindemiths Komposition enthält.

Den unkompliziertesten Zugang zu diesem Werk, dessen Libretto bezeichnenderweise ein Kabarettist geschrieben hat, bietet die turbulente Handlung mit frech-amüsanten Texten. Das rasante Tempo, dass in der Musik vorgegeben ist, entspricht ganz der inhaltlichen Entwicklung. Die erste überraschende Erkenntnis, die „Neues vom Tage“ beschert: Hektik, Lärm und Informationsflut sind keinesfalls nur Plagen der Neuzeit. Die „Wilden Zwanziger“ haben ihren Namen nicht nur aufgrund des in jenen Jahren vorherrschenden libertären Lebensstils erhalten.

Wie sehr die Konkurrenz von Freizügigkeit einerseits und wirtschaftlich-sozialer Unsicherheit, die nach dem Untergang der Kaiserzeit und der galoppierenden Inflation herrschte, den Menschen tatsächlich zusetzte, lässt sich nicht nur an dieser Oper, sondern an einer ganzen Reihe wesensverwandter Musikwerke ablesen, denen allesamt eine höchst ironische Sichtweise auf die herrschenden Zustände gemein ist – angefangen von Brechts „Dreigroschenoper“ (1928) bis zu Paul Abrahams „Ball im Savoy“ (1932). Und nicht zufällig geht einem bei der Protagonisten-Bezeichnung „Der schöne Herr Hermann“ die Liederzeile durch den Kopf „Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist“: Die Ur-Fassung des „Weißen Rössl“, heute zu Unrecht als kitschige Klamotte in Erinnerung, wurde von Paul Benatzky nur ein Jahr nach der Uraufführung von Hindemiths Oper komponiert. All diese von Witz, Anspielungen und ironischer Kritik sprühenden Musikwerke sind Beispiele für das legendäre Unterhaltungstheater der Weimarer Republik, die die damaligen Verhältnisse (auch und gerade der Geschäftswelt) augenzwinkernd, aber mit durchaus ernstem Hintergedanken aufs Korn nahmen.

Während die Revuen und Operetten als „leichte Muse“ gelten, ist Hindemiths Musik komplexer, ohne jedoch wirklich „schwer“, schon gar nicht „ernst“ zu sein. An zahlreichen Stellen wird das musikalische Pathos der Romantik, vor allem im Stile von Wagner und Strauss, süffisant karikiert (so im Liebesduett des Schönen Herrmann mit Laura im Museum, oder in der Chorpassage in Lauras Badezimmer) – aber auch die analytisch-„durchgeistigte“ Barockmusik und deren Übervater Bach bekommen ihr Fett weg (zu Beginn des dritten Teils, als Eduard im Gefängnis sein Los beklagt und Laura auf dem Sofa die Tageszeitungen liest). Die spröde Musik hat einen klug kalkulierten „störenden“ Effekt (hat man das einmal durchschaut, ist das Zuhören ganz einfach): Sie kommentiert, ja persifliert fortlaufend die Handlung, so dass man den Akteuren tatsächlich ausschließlich zuschaut – das übrigens, wegen des hohen Amüsiereffekts der Inszenierung (von Hajo Fouquet) und der komödiantischen Begabung der Darsteller, ausgesprochen gern – ohne jedoch an ihrem Seelenleben teilzunehmen.

Und dennoch – das ist die vielleicht erstaunlichste Wirkung dieser Oper – stellt sich eine Identifikation, mithin auch eine Selbst- und gesellschaftliche Erkenntnis, ein. Dem Komponisten lag es ganz offenbar daran, nicht nur die kostbare antike Venusstatue im Museum vom Sockel zu stoßen, sondern alles, was sich mit dieser Szene verbindet: Die hehren Gefühle, die verstaubten Traditionen, den toten Marmor – und zwar nicht nur in musikalischer, sondern auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Hindemith wollte mit seiner Musik nicht nur ästhetisch wirken, sondern immer auch Sozialkritik üben.

Dieses Anliegen hat er, gemeinsam mit seinem Librettisten, in seiner „Lustigen Oper“ auf geradezu erschreckend visionäre Weise umgesetzt. Denn dass sich die Menschen, in nicht unerheblicher Zahl, 80 Jahre nach deren Uraufführung tatsächlich der Öffentlichkeit preisgeben, indem sie die intimsten Dinge über sich selbst medial verbreiten und sich als Objekt des Interesses zur Verfügung stellen, war damals sicher nicht vorauszusehen. Das, was heute als „Medienzirkus“ bezeichnet wird, ist in „Neues vom Tage“ im dritten Teil auch für den heutigen Betrachter erstaunlich aktuell skizziert – und bezeichnenderweise sind jene Passagen tatsächlich mit an Zirkusmusik erinnernde Klangbildern unterlegt. Vor allem jedoch führt „Neues vom Tage“ – wenn auch sehr unterhaltsam – vor Augen, dass der Zwang zur „Selbstvermarktung“, die Ökonomisierung des Ich, nichts Neues ist – und dass sich in dieser Hinsicht im Vergleich zu den Zwanzigern des letzten Jahrhunderts nichts verbessert hat. Die zweite Genrebeschreibung, die Hindemith diesem Werk gegeben hat, ist heute zutreffer den je: Es ist eine Zeitgeist-Oper, im wortwörtlichen Sinn.

Schon aus diesem Grund ist es höchst erfreulich, dass das Theater Lüneburg „Neues vom Tage“ auf die Bühne gebracht hat. Dabei hat es wie selbstverständlich eine große Herausforderung gemeistert, die die Realisation dieser äußerst temporeichen, durchkomponierten und realistische Bilder erfordernden Oper mit sich bringt: Das Theater hat keine Drehbühne, und aufgrund der zum Teil sehr kurzen Zwischenspiele müssen die Umbauten wie im Zeitraffer stattfinden. Musikalischer Leiter Thomas Dorsch ist daher nicht nur damit betraut, die sehr komplexe, reich orchestrierte Komposition in ein ausdrucksstarkes und dennoch ausgewogenenes Klangbild zu übersetzen (was ihm und den Lüneburger Symphonikern hervorragend gelingt) – er muss obendrein die für die Bühnenumbauten zu beachtenden Handzeichen geben (und deshalb gehen die Verwandlungen wie am Schnürchen vonstatten). Dass die „Sprödigkeit“ der Musik keine abschreckende, sondern paradoxerweise sogar anziehende Wirkung entfaltet, liegt nicht zuletzt an den mit Charme und Leichtigkeit singenden und agierenden Darstellern (in den Hauptrollen Franka Kraneis als Laura, Christian Oldenburg als Eduard, MacKenzie Gallinger als Herr M, Kristin Darragh als Frau M und – die Ironie seiner Rolle bis zum Schlussapplaus wunderbar ausschöpfend – Karl Schneider als Der schöne Herr Hermann). Haus- und Extrachor des Theaters stellen insbesondere am Schluss der Badszene unter Beweis, dass sich eine Wagner-Parodie geradezu schön anhören kann, obwohl der Komponist bewusst den Eindruck von „Schrägheit“ erzeugen wollte. Fazit: Ein in jeder Hinsicht gelungener und abwechslungsreicher Opernabend.

Christa Habicht, 27. April 2015

Sämtliche Fotos: Andreas Tamme

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