Tecklenburg: „Les Misérables“

Schicksale im Schatten der Barrikadenkämpfe

Längst haben sich die FreilichtSpiele Tecklenburg zu einer allerersten Adresse in Sachen Musical gemausert. Das bewiesen sie in den letzten Jahren mit hochrangigen Produktionen und guten Besetzungen. Die Musical-Elite Deutschlands gibt sich hier inzwischen regelmäßig die Ehre.

In diesem Jahr wurde mit dem ebenso anspruchsvollen wie aufwendigen Musical „Les Misérables“ in der deutschen Übersetzung von Heinz Rudolf Kunze ein besonders „dicker Brocken“ geschultert. Das ist 2006 auch schon gelungen, damals war es die erste deutsche Freilichtaufführung dieses Werkes.

„Les Misérables“ wurde 1980 uraufgeführt und 1985 überarbeitet. Es gehört zu den besten und anspruchsvollsten Werken des Genres. Das Libretto nach der literarischen Vorlage von Victor Hugo schuf Alain Boublil. Die Musik stammt von Claude-Michel Schönberg und kann mit ihrer Vielseitigkeit, Originalität und Melodienfülle höchsten Ansprüchen genügen. Breiten Raum nehmen die gewaltigen Chorszenen ein.

Im Mittelpunkt der Handlung, die zur Zeit der Pariser Barrikadenkämpfe um 1830 spielt, steht das Schicksal des ehemaligen Sträflings Jean Valjean, der wegen eine Bagatelle zu neunzehn Jahren Kerker verurteilt wurde. Aber auch nach seiner Freilassung wird er über Jahre von dem unnachgiebigen Inspektor Javert verfolgt.

Regisseur Ulrich Wiggers gelingt eine lebendige, packende Inszenierung, bei der sich die vielen Massenszenen organisch entwickeln und sich in den Aktschlüssen zu eindrucksvollen Tableaus steigern. Der hier besonders geforderte Chor bewährt sich bestens und zeigt einmal mehr seine bemerkenswerte Qualität. Die Möglichkeiten der Bühne werden optimal genutzt. Die Tecklenburger Burgruine bietet einen stimmigen Schauplatz, mit Häuserfronten der Elendsviertel im Hintergrund und an der Seite mit einem Kabinett für den Bischof und später für die revoltierenden Studenten. Eine eindrucksvolle Lösung fand Ausstatterin Susanna Buller für die hereingerollten Barrikaden, in denen später die Leichen der revoltierenden Studenten hängen. Mit Gefechtsdonner und Pulverdampf wird dabei nicht gespart. Die phantasievollen und stimmigen Kostüme stammen von Karin Alberti.

Patrick Stanke verdeutlicht die Entwicklung Valjeans vom entlassenen Sträfling bis zum alten Mann (die Handlung umfasst den Zeitraum von 1815 bis 1833) sehr nachdrücklich. Aufwühlend gelingt ihm sein Monolog „Wer bin ich?“, berührend das mit verhaltener Lyrik gestaltete Gebet. Stanke verfügt über sehr ansprechende gesangliche Mittel und begeistert mit viel Bühnenpräsenz Sein Gegenspieler Javert wird von Kevin Tarte mit Eiseskälte und gefährlicher Ausstrahlung verkörpert. Am Ende treibt ihn sein Scheitern in den Selbstmord. Die Rolle der unglücklichen Fantine, die ihre Tochter Cosette Valjean anvertraut, ist leider sehr kurz. Dabei hätte man von Milica Jovanovic, die über eine kraftvoll-farbige und ausgesprochen schöne Musical-Stimme mit vielen Nuancen verfügt, gern mehr gehört. Im letzten Jahr begeisterte sie schon in „Rebecca“.

Das jugendliche Liebespaar Cosette und Marius wird von Daniela Braun und Florian Peters, besonders mit ihrem melodischen Duett „Mein Herz ruft nach Dir“, stimmlich etwas in Operetten-Nähe gerückt. Jens Janke und Bettina Meske sind die schmierigen Wirtsleute, die sich später in der Pariser Kanalisation rattenähnlich als Leichenfledderer betätigen. Das witzige, mit der hinreißenden Choreographie von Kati Heidebrecht angereicherte Lied „Ich bin Herr im Haus“ ist ein rechter Show-Stopper und entfacht Begeisterungsstürme. In der Rolle des pfiffigen Jungen Gavroche zeigt der kleine Dean Clausmeyer selbstsicheres Bühnentalent. Aus dem ausgezeichneten Ensemble seinen stellvertretend Lasarah Sattler (Eponine), David Jakobs (Enjolras) und Florian Soyka (Bischof) genannt.

Die Aufführung verlangt mit fast dreieinhalb Stunden Dauer ordentlich viel Sitzfleisch. Aber es lohnt sich, nicht zuletzt auch Dank der schmissigen musikalischen Umsetzung unter der Leitung von Tjaard Kirsch.

Wolfgang Denker, 23..06.2018

Fotos von Holger Bulk und Stephan Drewianka