Berlin: „Roméo et Juliette“

Symphonie dramatique | Musik: Hector Berlioz | Paroles: Emil Deschamps, nach Shakespears Trauerspiel | Uraufführung: 24. November 1839 in Paris

Man muss vom Kern des Werks ausgehen, dem 3. Satz dieser Symphonie dramatique, denn hier wird Berlioz’ Absicht besonders deutlich: Er wollte aufzeigen, dass die instrumentale Sprache in manchen Bereichen reichhaltiger, imaginärer und damit effektiver ist, als das gesungene Wort. Und genau dieses Ziel hat er in diesem dritten Satz von ROMÉO ET JULIETTE in ganz besonders eindringlich erreicht. Das spannungsgeladene Warten Roméos im Garten, den sanften Abendhauch, das Liebesgeständnis und die Hinführung zum Höhepunkt des Liebesaktes mit darauffolgender Ermattung. Dazu hätte ein konventionelles, opernhaftes Liebesduett nie und nimmer ausgereicht. Und genau dieser Tiefe des Ausdrucks nachzuspüren und gedankliche Räume beim Zuhörer zu öffnen gelang Robin Ticciati am Pult des Deutschen Symphonie Orchesters Berlin auf geradezu hypnotische Art. Ticciati und das Orchester evozierten die Stimmungen überaus plastisch, zeigten die Zärtlichkeit der Annäherung, blieben stets analytisch und präzise, das klang nicht zu süß und doch voller Emotion und Wärme. Klug wurde der dynamische Höhepunkt aufgebaut, wenn das Liebesthema in voller Breit strahlt, subtil das Pochen der Herzen herausgearbeitet, die polyphone Melodieführung transparent gehalten, das tragische Ende angedeutet. Wunderbar.

Im inneren Kern der Sinfonie arbeitete Berlioz ja nur instrumental (mit der kleinen Ausnahme des Chores aus dem Off zu Beginn des dritten Satzes). So vernahm man im zweiten Satz herrliche Passagen der Holzbläser, welche Roméos träumerische Reflexionen markierten, eingebettet in einen fantastischen Gesamtklang, mit präzisen Pizzicati der Streicher, dynamisch fein abgestuften Überleitungen zum Fest, zu den Klängen und Tänzen des Balls bei den Capulets, zu der Cortège artigen Sequenz des Blechs, nach der dann alles in einer Art fiebrigen Rausches endete (u.a. waren auch vier Harfen im Einsatz!), plastisch gestaltet und doch so sorgsam dosiert, dass es nicht überbordete. Spritzig und kontrastreich gestaltet folgte nach der Liebesnacht das Scherzo mit der instrumentalen Erzählung der Szene der Fee der Träume, der Reine Mab, die bei Shakespeare nur in einer Randbemerkung von Mercutio erwähnt wird. Berlioz nahm die Episode zum Anlass, einen ganzen Satz seiner Sinfonie diesem Fabelwesen zu widmen, das den Träumenden Flausen in den Kopf zu setzen pflegt. Dieser Intermezzo artige Spuk ist ein liebenswertes Stück Musik, von dem insbesondere die aparte Kombination Englischhorn/Flöte im Ohr haften blieb. In den orchestralen Passagen des Prologs begeisterten die rhythmisch klar und markant ausgeführten Fugati der Streicher, die machtvollen Warnungen des Blechs, die dezent hereinwehenden Klänge des Festes, die Wärme des erstmals angetönten Liebesmotivs.

In den Ecksätzen dann traten auch die vokalen Sequenzen hinzu. Mit dem Rundfunkchor Berlin (Einstudierung: Daniel Reuss)und der Solistin Julie Boulianne (Mezzospran) sowie den Solisten Paul Appleby (Tenor) und Alastair Miles (Bass) waren die Vokalpartien vorzüglich abgedeckt. Der Rundfunkchor Berlin begeisterte sowohl in der Kammerformation (Prolog) als auch in der Großformation (Leichenzug, Satz V und Finale, Satz VI) mit wunderschön rundem Klang, einer Sauberkeit und Sicherheit der Intonation, die zum Niederknien war. Die eigenartige Monotonie der Choreinwürfe im Trauerzug (wo das Orchester lange Zeit den Lead hat) erzeugte dabei eine genauso intensive Wirkung wie der geradezu hymnisch klingende, klanglich überwältigende Schwur auf den Racheverzicht am Ende. Julie Boulianne stand für ihren Part im ersten Satz mitten im Orchester, gestaltete ein eindringliches a capella Rezitativ und überzeugte in ihrem schlicht und unprätentiös gestalteten Lied (sehr schön die Begleitung durch zwei Harfen) mit ihrem aparten dunklen Timbre, trunkener Schönheit und einer unaffektierten Ehrlichkeit des Ausdrucks. Nur kurz ist (leider von Berlioz so konzipiert) der Einsatz des Tenors im eingefügten Scherzetto des Prologs: Paul Appleby ließ jedoch mit seiner betörenden stimmlichen Leichtigkeit aufhorchen. Fein ziseliert waren nicht nur sein Gesang, sondern auch die subtilen Einwürfe des Orchesters und des Kammerchors in dieser Szene. Den größten vokalen Part hatte Berlioz dem Bassisten zugeschrieben, dem einzigen, der in einer wirklichen Rolle (Pater Lorenzo) auftritt und nicht bloß als Erzähler oder Kommentator fungiert. Alastair Miles sang ihn mit der gebotenen, leicht aufgerauten, autoritären Vehemenz und erreichte damit geradezu opernhafte Qualitäten, auch weil der in seiner langen Weltkarriere mit Berlioz’ Musik bestens vertraute Sänger über eine blendende französische Diktion verfügte. Stimmgewaltig und mit Profundität sang er die zornerfüllte Forderung nach Versöhnung der verfeindeten Familien, schwor alle auf den Frieden ein.

Berlioz’ Version von ROMÉO ET JULIETTE mag beim ersten Anhören einen heterogenen Eindruck hinterlassen. Doch, wie Habakuk Traber im wie stets exzellent formulierten Programmbuch schreibt, erfordert das Werk ein „waches, offenes Hören, das dem Komponisten …. zum wortlosen Ausdruck des Schönsten und des Schrecklichsten folgt.“ Dieses „Folgen“ (das Publikum war erstaunlich konzentriert!) ermöglichten alle Beteiligten mit ihrem grandiosen Einsatz für Berlioz’ spartenübergreifendes Kunstwerk auf bezwingende Art.

Kaspar Sannemann 10-11-2018