Frankfurt: Freudenfest für Mahler

Orchester der Mailänder Scala

Riccardo Chailly (Leitung), Ray Chen (Violine)

Felix Mendelssohn Bartholdy
Violinkonzert e-Moll op. 64

Gustav Mahler
Sinfonie Nr. 1 D-Dur

Ein besonderes Gastspiel präsentierte die Pro Arte Konzertdirektion in der Alten Oper mit dem Orchester der Mailänder Scala unter Leitung seines Chefdirigenten Riccardo Chailly. Mendelssohn und Mahler gehören seither zum Kernrepertoire des italienischen Maestros. Und so war die Vorfreude auf dieses Konzert besonders groß.

Im Jahr 1845 wurde das Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy uraufgeführt und gilt seither als eines der meistgespielten Konzerte seiner Gattung. Der nahtlose Übergang der ersten beiden Sätze oder die vorgezogene Kadenz waren besondere Neuerungen dieser Komposition.

Der in Taiwan geborene und in Australien aufgewachsene Solist des Abends, Ray Chen, trat bereits mit vier Jahren auf und ist Preisträger unzähliger Wettbewerbe. Chen ist ein außergewöhnlicher Geiger, betont kommunikationsfreudig und dazu mit einer stupenden Technik gesegnet.

Seit jeher spielt Chen auf Stradivari Violinen, so auch gegenwärtig auf einem Instrument aus dem Jahr 1735. Sehr vollmundig im körperreichen Ton gab Chen seinem Solopart eine ausgeprägte Prominenz. Mit emotionaler Tiefe und einem feinen Gespür für die kantablen Momente zelebrierte er feinste Phrasierungen. Immer wieder spürte er den Klängen nach, um dann neue Spannungsbögen zu formulieren. Mit langem Atem und tiefer Anteilnahme gelangen ihm bewegende Momente, vor allem im gefühlvollen zweiten Satz, der eine große Innigkeit erfuhr. Voller Schalk, Virtuosität und Spielwitz stürmte Chen durch das Finale. Dabei erzählte sein expressives Mienenspiel intensiv den Gefühlsverlauf seiner Interpretation, sekundiert durch seinen vollen Körpereinsatz. Fortwährend suchte Chen den Kontakt zum Orchester und letztlich war es vor allem der nonverbale Dialog zwischen Chen und dem Dirigenten des Abends, Riccardo Chailly. Das Orchester der Mailänder Scala, mit einer herausragenden Klangkultur agierend, spielte äußerst selbstbewusst und war hier ein sehr starker Partner, der immer wieder symphonisch auftrumpfend erklang. Das Zusammenspiel klappte vorzüglich und so gab es am Ende des Konzertes große Begeisterung. Ray Chen bedankte sich mit zwei hinreißenden Zugaben von Paganini und Bach, die er sehr gut verständlich ansagte.

1899 erhielt die 1. Sinfonie Gustav Mahlers ihre finale Gestalt. Mahler kämpfte lange mit dieser Komposition. Zunächst war sie als symphonische Dichtung vorgesehen. Ein Programm wurde formuliert und wieder verworfen, ebenso die ursprüngliche fünfsätzige Form mit dem sog. „Blumine“-Satz.

In dieser Sinfonie verarbeitete Mahler eine Reihe seiner Wunderhorn Lieder. Seine große Vorliebe für Naturstimmungen findet sich in dem hinreißenden ersten Satz wieder, faszinierender wurde das Erwachen der Natur nie in Töne gesetzt. Ein „a“ in sechs Oktaven in den Streichern erzeugen ein mystisches Flimmern. Dann ertönt das zentrale Intervall der Sinfonie: die absteigende Quarte.

Vogelstimmen, ferne Fanfaren, volkstümliche Weisen, ironische Brechungen, Trauermarsch und Apotheose sind typische Stilelemente seiner Sinfonien, so auch hier. Und wie überwältigend ist der Sonnenaufgang im strahlenden D-Dur am Ende des ersten Satzes! Die Musik stürmt wild nach vorne. Immer vorwärts!

Welch ein Kontrast im folgenden bäuerlichen Ländler, bis ein Trio mit Streicher Glissandi eine Oase für den Zuhörer errichtet, in der Zeit und Raum sich aufzuheben scheinen.

Unheimlich dunkel dann der Moll-Kanon des „Bruder Jacobs“ im dritten Satz mit jüdisch folkloristischen Elementen in den Bläsern, kontrastiert von einer vorbeiziehenden böhmischen Blaskapelle.

Mit einem gewaltigen Aufschrei im Orchester wird die Grabesstimmung auseinandergerissen. Wild aufbäumend wird gegen das Schicksal aufbegehrt. Aus einer anderen Welt kehren die Streicher dann überaus tröstend zurück. Dann wieder unbarmherzige Grausamkeit des Lebenskampfes und doch plötzlich Hoffnung in der Musik. Aus der Dunkelheit ins Licht, in die Apotheose. Berauschender Freudentaumel in Musik!

Es war eine große Stunde, ein akustisches Fest für Gustav Mahler, welches das hingebungsvoll musizierende Orchester der Mailänder Scala darbot. Die überragende Klangkultur zeigte sich bereits am Beginn, im feinsten Pianissimo. Chailly beschwor hier mustergültig das Erwachen der Natur. Jede Vogelstimme erhielt einen eigenen Akzent. Sehr luftig, weit ausschwingend ließ Chailly die Natur erwachen. Größte Spannung dann mit dem Einsatz der großen Trommel, die herrlich wuchtig mit leisen Schlägen, die Stimmung eintrübte, bevor sie durch die gewaltige Kulmination mit prasselnden Beckenschlägen vertrieben wurde. Euphorisch strahlende Hörner erzeugten einen Überschwang der Gefühle mit äußerster Intensität. Was für ein Beginn!

Saftig derb agierte der große Streicherapparat im Ländler des zweiten Satzes. Mit bestechendem Schwung zog dieser herrliche Satz am Ohr des Zuhörers vorbei. Chailly machte sich am Satzende eine Ergänzung des Mahler Dirigenten Willem Mengelberg zu eigen, in welchem dieser der Pauke noch einige Takte zugestand.

Wunderbar vielschichtig in der Farbgebung geriet der Kanon des dritten Satzes, ebenso das getragene Trio. Die akustische Welt, in Trauerflor gehüllt, stand plötzlich still.

Chaillys überragende Fähigkeit, über allem einen einzigen großen Bogen zu spannen, zeigte sich dann besonders eindrucksvoll im vierten Satz. Mit größter Vehemenz öffnete er die Pforten der Hölle und Verzweiflung, ließ das Orchester stürmen und brausen, um es dann wieder beruhigend einzufangen. Alle verbliebenen dynamischen Reserven mobilisierte Chailly für eine Schluss-Apotheose des Lichtes, die die Zuhörer förmlich aus den Sitzen hob.

Das Orchester der Mailänder Scala verwöhnte die Zuhörer mit einer splendiden Klangintensität in allen Gruppen. Die Streicher begeisterten mit kammermusikalischer Akkuratesse, ebenso im vollmundigen Forte Spiel. Die Holzbläser waren vielschichtig in ihrer Charakterisierung, während die Blechbläser mit großer dynamischer Bandbreite begeisterten. Vor allem die Hörner konnten im vierten Satz noch gewaltig zulegen, so dass deren Choral am Satzende einer der vielen Höhepunkte war. Ausgezeichnet die präzise und mutig agierende Gruppe der Schlagzeuger.

Zudem war es eine besonders gute und kluge Idee, das riesige Orchester auf mehrere Ebenen zu staffeln. Auf diese Weise war der Tutti Klang stets durchsichtig und detailreich.

Riccardo Chailly dirigierte mit größtem Engagement und tiefem Wissen um die Besonderheiten der Musik von Gustav Mahler. Er ist einer der wenigen großen Mahler Dirigenten der heutigen Zeit.

Das Publikum war absolut hingerissen und feierte alle Beteiligten mit ausdauerndem Jubel.

Dirk Schauß

18. Mai 2022