Buchkritik: „Schütz-Jahrbuch 2022“

Wagen wir einmal ein Gedankenexperiment. Stellen wir uns vor, dass von Mozarts „Le nozze di Figaro“ nur das Libretto, aber keine einzige Note auf uns gekommen ist, weil das Werk nie gedruckt wurde und die Handschrift sowie alle möglichen Abschriften verschollen sind. Da nun aber mehrere hundert andere Werke und viele Opern des Meisters überliefert sind, käme ein Musiker auf die Idee, den überlieferten Text mit der überlieferten Musik nachzuvertonen, d.h.: dem Figaro-Text die Musik aus anderen Werken zu unterlegen. Am Ende hätte man somit eine „Mozart-Oper“ – aber nichts, was einem „Figaro“ auch nur ansatzweise entsprechen würde.

Im Fall der „ersten deutschen Oper“ hat man das Experiment durchgeführt. Da Heinrich Schütz‘ „Dafne“, 1627 in Torgau uraufgeführt, bis auf den Text von Martin Opitz komplett verloren ist, kamen in den letzten Jahren gleich zwei „Rekonstruktionen“ auf die Bühnen – denn wiederherstellen lässt sich an der „Dafne“ akkurat nichts. Wir wissen nicht einmal, ob es sich um eine Oper, ein Singspiel oder um eine Schauspielmusik handelte. Den Anspruch, das Werk wiederherzustellen, hatte auch Roland Wilson nicht, aber wer will, kann sich das Neorenaissance-Pasticcio aus Schütz-Stücken und anderen, vor allem italienischen Stücken, inzwischen sogar als CD ins Haus holen. Wem‘s gefällt…

Was hat dies alles mit dem neuen Schütz-Jahrbuch zu tun? Mehr, als man zunächst vermutet – denn unter dem Oberthema „Heinrich Schütz, Landgraf Moritz und der Kasseler Hof“ finden sich immer wieder Hinweise auf jene Musiktheaterformen, deren Klang heute nur noch geahnt werden kann. Das beginnt mit einem höfischen Spektakel und endet nicht mit einer Oper. Bernhard Jahn erläutert in seinem Beitrag über „Interkonfessionelle Verständigung im 17. Jahrhundert und die Rolle der Künste“ das Beispiel eines (musikalisch verlorenen) Singspiels von 1688 (Johann Philipp Förtschs und Christian Heinrich Postels „Die Heilige Eugenia“), die sowohl für Katholiken wie für Protestanten problemlos konsumierbar war, obwohl sie nach einem italienischen Libretto ins Hamburgische gebracht wurde. Interessant wird die Operngeschichte, wenn wir sie, wie Jahn, in Zusammenhang mit dem ersten Hamburger Theaterstreit betrachten, in dem sich bereits, mit Anton Reiser, ein vehementer Ankläger des sündhaft-weltlichen Opernunwesens fand – ohne dass konfessionelle Gesichtspunkte eine nennenswerte Rolle gespielt hätten.

Nach Kassel und zu Schütz gerät man, wenn man sich die Bildungspolitik des Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel anschaut, der den jungen Schütz an die Fulda holte, wo er von 1598 bis 1608 im Mauritianum die Schulbank drückte. Der Landgraf ging schon deshalb in die Kulturgeschichte ein, weil er mit dem heute noch (äußerlich) bestehenden Ottoneum den ersten festen Theaterbau auf deutschem Boden gründete. Dörte Schmidt gibt einen exzellenten Überblick über Moritz‘ Kulturpolitik, die mit der musikalischen Praxis konform ging, in der es keine strengen konfessionellen Schranken gab; der Austausch mit dem katholischen Italien (wobei zwischen dem orthodoxen Rom und dem liberaleren Venedig unterschieden werden muss) kam schließlich auch Schütz zugute, als er dort unten die italienische Musik ab ovo und, während gerade die Oper erfunden worden war, auch die modernste Ästhetik kennenlernte. „Der Kasseler Hof hatte also“, schreibt Schmidt, „Teil (wenn auch nicht klar ist, in welchem Umfang) am Rezeptions- und Aneignungsprozess weltlicher italienischer Musik im lutherischen Raum“.

Gab es im Kassel der relativ kurzen Schütz-Zeit auch keine Opern, so gehörte die Residenzstadt doch zu jenen Orten im Deutschen Reich, deren Hoffeste auf jene Vorformen des Musiktheaters verweisen, die nur wenige Jahre später in Italien zur Ausbildung dessen beitrugen, was nicht erst seit seit Monteverdis „Orfeo“ als „Oper“ bekannt ist. Der Anteil der Vor-Opern-Formen an der Entstehung der neuen Bühnenform mag in der Musikwissenschaft umstritten sein – man könnte jedoch davon ausgehen, dass Alles, was im 16. Jahrhundert Intermedium, Aufzug, Revue, Fest, Spektakel mit Musik und mit Musik unterfüttertes Bühnenspiel war, an der Erfindung der ersten Opern mehr oder weniger deutlich beteiligt war. Das Kasseler Fest, das 1598 zur Taufe Elisabeth zu Hessen-Marburgs stattfand, gehört zu den bestdokumentierten Festivitäten der Zeit um 1600; wer will, kann über die Adresse https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb00001428?page=,1 Wilhelm Dilichs „Historische Beschreibung der Kindtauf des Fräuleins Elisabeth zu Hessen“ anschauen und sich in die Farbtafeln vertiefen, auf denen die Aufzüge verewigt worden sind. Ist auch die Musik verschollen, so erhalten wir doch einen genauen Eindruck von der Prachtentfaltung, die sich damals in bewegten Bildern kundtat. 1598 wurde auch die erste, wenigstens fragmentarisch überlieferte Oper, Jacopo Peris „Dafne“ (!), aus der Taufe gehoben. Apoll und die Musen, die nicht nur in Monteverdis „Orfeo“ für das „glückliche Ende“ sorgen, hatten schon in der Oper Nr. 1 und 1589 in den berühmten Florentiner Intermedien namens „La Pellegrina“ (deren Musik glücklicherweise erhalten blieb) und in diversen Kasseler Feierlichkeiten die Hauptrollen gespielt. Schütz‘ und Opitz‘ „Dafne“ wird dann, vermittelt durch ein italienisches Vorbild, den Topos des auf erotischen Wegen stromernden musischen Beschützers der Künste wiederaufnehmen.

In Kassel, so Gerhard Aumüller in seinem Beitrag über Schütz‘ Tätigkeiten am Kasseler Hof, spielten die Kapellknaben, zu denen auch Schütz gehörte, eben jene Musen, neben denen nicht weniger als knapp 50 Profi- und Laienmusiker bei den Festzügen agierten. Die Rolle der Musikschüler, die – eine Besonderheit im deutschsprachigen Raum – eine ganzheitliche Erziehung erhielten, kann gar nicht überschätzt werden. Schütz lernte, so Aumüller, in Kassel für sein Leben. Hier begegnete er der Praxis von Solo- und Ensemblesätzen, und hier kam er bereits mit der „Organisation der musikalischen Gestaltung großer höfischer Feste“ in Kontakt. Es waren Qualifikationen, die ihm später, in Dresden und am dänischen Hof, gute Dienste bei der Ausübung seiner weltlichen Tätigkeiten lieferten. Leider hat sich von Schütz‘ zahlreichen Festmusiken keine Note erhalten. Sie sind ebenso verloren wie seine „Oper“ und die Musik zum Kasseler Hoffest von 1598. Dies alles wurde nicht für die Ewigkeit, sondern für den Tag geschrieben, aber Beiträge wie die von Gerhard Aumüller und Dörte Schmidt vermögen uns wenigstens theoretisch eine profunde, weil quellengesättigte Auskunft über das zu geben, was so verloren ist wie die Gebäude und Orte, in und an denen die höfischen Spektakel in Kassel einst stattfanden.

Das ist, denke ich, wesentlich mehr als die Komplettierung einer im Abgrund der Musikgeschichte versunkenen Oper. In diesem Sinn kann das neue Schütz-Jahrbuch auch den Opernfreunden empfohlen werden, die sich für die Archäologie und die Frühgeschichte der geliebten Gattung interessieren.

Frank Piontek, 1. September 2023


Schütz-Jahrbuch 2022
Bärenreiter Verlag, Kassel 2023
133 Seiten, 8 Abbildungen.

43,95 Euro