Wien: „Les Martyrs“, Gaetano Donizetti

„Les Martyrs“, hierzulande kaum bekannt (und wenn, dann eher in der italienischen Version als „Poliuto“) ist eine Grand Opéra von Gaetano Donizetti, 1840 in Paris uraufgeführt, wofür die vorliegende, erst später gespielte italienische Originalversion entsprechend bearbeitet wurde – gleicherweise mit Ballett versehen wie stilistisch weicher und sentimentaler als das italienische Original. Es ist eine einfache, vielleicht zu einfache Geschichte, die 257 nach Christus spielt, als die Römer noch wild die Christen verfolgten. Pauline, Tochter des Gouverneurs Felix, hat einst den Römer Sévère geliebt, der später für tot gehalten wurde. Also heiratete sie Polyeucte, ohne zu wissen, dass er überzeugter Christ ist. Als Sévère zurückkehrt, bleibt sie bei ihrem Mann – und als dieser den Tod in der Arena wählt, weil er von seinem Glauben nicht lassen kann, erlebt sie eine religiöse Erleuchtung und geht mit ihm in den Tod.

(c) Werner Kmetitsch

Schlicht, sehr schlicht, für den polnischen Regisseur Cezary Tomaszewski offenbar nichts, was er einfach als historisches Spektakel für das Theater an der Wien (noch immer in der Ausweichspielstätte des MuseumsQuartiers) auf die Bühne bringen wollte. Nun spielt die Geschichte in Armenien, und weder zur Römerzeit noch zu Lebzeiten Donizetti hatte das stattgefunden, was Tomaszewski als historische Ebene einzog (und was er, das sei gleich gesagt, keineswegs überzeugend in die Inszenierung integriert). Armenien – ja, das war der Völkermord, den die Osmanen in den Kriegsjahren 1915 bis 1916 durch Todesmärsche und Massaker. Vergewaltigungen und Morde an den Armeniern beging. Die Zahl der Todesopfer wird verschieden angegeben, die Wiener Aufführung spricht (bzw, schreibt) von einer Million Toter.

Geschrieben wird das Unrecht als Projektion während der Ouvertüre als Menetekel an der Wand, der Abend sei als „Klagelied“ für das armenische Volk gedacht, heißt es, aber dann wird einmal die Oper gespielt. Erst am Ende mischen sich „Armenier“, die aussehen wie von 1915, ins Geschehen, aber der Weg in die Todesarena (die es so wenig gibt wie alles andere) wird zum inszenatorischen Kuddelmuddel. Im Hintergrund trägt man aufgespießte Stoff-Leichen herum, im Vordergrund werden (Stoff-)Tote vorwurfsvoll mit Tüchern bedeckt, die armenische Namen tragen. Ein „Drüberstreuer“, der versichert, hier wird richtig gedacht und gehandelt – hoffentlich nicht nur zur Selbstbestätigung und Selbstbefriedigung des Hauses…

Nun muss man eines zugestehen. Der Holocaust „lebt“, weil die deutschen und österreichischen Täter sich (mehr nolens als volens) zu ihren Verbrechen bekannten und ihre Nachkommen bereit sind, über Generationen in Reue zu verharren. Diese Befriedigung haben die Armenier nicht. Die Türken als Nachfahren der einstigen Osmanen leugnen das Geschehene, schweigen am liebsten darüber, und man hat den Eindruck, hätte Franz Werfel nicht „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ geschrieben, wäre dieser Völkermord, die blutende Wunde in der Geschichte des armenischen Volkes, ganz vergessen. Dennoch wäre einmal ernsthaft zu diskutieren, ob das gewaltsame und dramaturgisch keine Sekunde überzeugende Aufpfropfen dieses Ereignisses auf eine Oper, bei der es simpel um „Oper“ geht, wirklich sinnvoll ist. Wie man weiß, hat „gut gemeint“ noch niemandem geholfen…

Jedenfalls hat sich Cezary Tomaszewski entschlossen, keinesfalls historisierend vorzugehen, sondern… ja wie? Was Ausstatterin Aleksandra Wasilkowska auf die Bühne brachte, Versatzstücke auf einer runden Drehbühne, vordringlich in Blutrot gehalten, wurde, wenn man den Einführungsvortrag richtig verstanden hat, mit einer Drag-Party verglichen, jedenfalls ist es mehr Sci-Fi und Fantasy als sonst etwas, sinnbefreit und solcherart frei verrückt. Das gilt auch dafür, was der Regisseur als Inszenierung anbietet. Den ganzen Abend wälzen sich Leiber, teils in Nacktbodies, der Chor ergeht sich in sinnlosen, oft drohenden, of kopulierenden Aktionen.

Von der Handlung versteht man auch kaum etwas, selbst wenn man den Inhalt vorher gelesen hat und die Augen auf die Übertitel fixiert. Da wird textlich nur der übliche Opern-Leerlauf geboten, auch wenn man das Französische hie und da versteht, geht es nur um Liebe und Religion und das in der obligaten Opern-Seichtheit. Dass man dazu erstens ein halb-irres Spektakel und zweitens dann noch Zeigefinger-Agitprop geliefert bekommt… das ist das Spezifikum dieses seltsamen Abends, der vor allem in den Balletteinlagen (und in den Kostümen immer) parodistisch wirkt.

Für den, der sie noch nicht kannte, war die Sizilianerin Roberta Mantegna in der zentralen Rolle der Pauline die Entdeckung des Abends (wenn man ihr auch das halbe Gesicht mit Blut beschmiert hat – auf dem Foto, das die Staatsoper zeigt, wo sie im November die Mimi singen wird, ist sie ungleich hübscher). Sie verfügt über einen schlanken, strahlenden Sopran ohne Höhenschärfe, souverän in den (hier nicht besonders reichlich vertretenen) Koloraturen, in voller Ausgewogenheit zwischen Lyrik und Dramatik. Man wird sie sehr gerne öfter hören.

Für ihren christlichen Gatten benötigt man den typisch „weißstimmigen“ Belcanto-Tenor, und dafür holt das Theater an der Wien bewährter Weise John Osborn. Mit schönem Bariton ließ Mattia Olivier aufhorchen, allerdings musste der arme Mann die ganze Zeit eine rote Glitzermaske am Gesicht tragen und sein letzter Auftritt in weißem Kleidchen und weißen Strumpfhosen… Von David Steffens hätte man sich für den Vater der Heldin einen etwas profunderen Baß gewünscht. Wieder einmal spielt der Arnold Schoenberg Chor (Leitung: Erwin Ortner) mit jener Intensität mit, die man von ihm gewohnt ist – aber so viel Verrücktheit hat man ihm wohl selten abverlangt.

(c) Werner Kmetitsch

Hätte Jérémie Rhorer am Pult des ORF Radio-Symphonieorchester Wien etwas mehr Temperament entwickeln sollen, oder pflegt der französische Dirigent das, was man vielleicht immer wieder als schleppend empfindet, als die französische Delikatesse der Musik, die Donizetti zweifellos für die Pariser eingebracht hat?

Das Publikum klatschte während der Vorstellung zurückhaltend, am Ende stark. Als das Leading Team erschien, gab es einen wahren Orkan an Buhrufen, die aber ziemlich schnell von den Applaudierern überdeckt wurden. Was vielleicht signifikant für diesen durch und durch zwiespältigen Abend ist…

Renate Wagner, 20. September 2023


Les Martyrs
Gaetano Donizetti

Theater an der Wien

Premiere am 18. September 2023

Regisseur: Cezary Tomaszewski
Dirigat: Jérémie Rhorer
ORF Radio-Symphonieorchester