DVD: „Tosca“, Giacomo Puccini

Bei dem Label Unitel ist ein im Januar 2022 am Theater an der Wien entstandener Live-Mitschnitt von Puccinis Tosca auf DVD erschienen. Hierbei handelt es sich rein szenisch um eine interessante Angelegenheit. Das Regieteam um Martin Kusej (Inszenierung), Annette Murschetz (Bühnenbild) und Su Sigmund (Kostüme) hat mit traditionellen Sehgewohnheiten gänzlich gebrochen und das Werk gekonnt modernisiert. Kirchen, Paläste und gar die Engelsburg sucht man in dieser interessanten Produktion vergebens. Kusej hat die pausenlos durchgespielte dramatische Handlung in eine vor Kälte starrende Schneelandschaft verlegt. Diese wird von einer knorrigen Eiche eingenommen, an der blutige Gliedmaßen hängen und vor der ein Torso angelehnt ist. Ferner sieht man ein Kreuz mit einem Marienbild, vor dem die im ersten Akt in einem grünen Mantel auftretende Tosca ihr Gebet verrichtet. Hinter dem Baum erblickt man einen Wohnwagen, der Scarpia als Wohnung dient und in dem im zweiten Akt Cavaradossi gefoltert wird.

In diesem frostigen Ambiente darf sich der nur mit Unterwäsche bekleidete Angelotti seinen Weg durch den Schnee suchen. Das Geschehen spielt sich in einer Diktatur ab, die von Folter, Grausamkeit und Mord bestimmt wird und bei der Religion nur eine Fassade ist. Deren Chef ist Scarpia. Die von ihm verhängten Todesurteile werden von dem schwarz-faschistisch gekleideten Leiter eines Killerkommandos Sciarrone ausgeführt. Die Rolle von letzterem hat Kusej mit der des hier gar nicht komischen Mesners und derjenigen des Schließers zusammengelegt. Dieser Mordgeselle hat einiges zu tun. Er ermordet im dritten Akt Angelotti – hier wartet der Regisseur mit einem trefflichen Tschechow‘ schen Element auf – und setzt außerdem dem Leben Cavaradossis durch einen gezielten Kopfschuss ein Ende. Eines Erschießungskommandos bedarf es hier nicht. Ein glänzender Einfall seitens der Regie ist die Erfindung einer zusätzlichen Figur, nämlich der Marchesa Attavanti. Zuerst nur auf dem Bild Cavaradossis erscheinend, ist sie später auch körperlich präsent und geistert rege über die Bühne. Im ersten Akt wird sie von Scarpias Schergen gefangengenommen – offenbar um von ihr das Versteck ihres Bruders Angelotti zu erfahren. Erst als das scheinbar misslingt, wendet sich Scarpia zu diesem Zweck an Cavaradossi, dem der Regisseur hier auch den Gesang des Hirten im dritten Akt anvertraut.

Der hier noch recht junge, schön anzusehende und eigentlich nicht unsympathisch wirkende Scarpia wirkt in seinem cremefarbenen Kostüm sehr nobel, was man innerlich von ihm ja in keinster Weise sagen kann. Tosca ist für ihn anscheinend nur eine unter vielen. In gleichem Maße hat er es auf die Marchesa Attavanti abgesehen, die er in seiner Vorstellung auch einmal leidenschaftlich küsst. Er und Tosca pflegen eine sadomasochistische Beziehung. Trotz seiner Brutalität wirkt er auf die Sängerin irgendwie anziehend. Bereitwillig entkleidet sie sich vor ihm bis auf die Unterwäsche und macht sogar die Beine für ihn breit. Zu Rettung Cavaradossis ist sie bereit, sich zu prostituieren. Das macht großen Eindruck. Bei diesen Szenen knistert es gewaltig. Für Scarpias Ermordung benötigt Tosca mehrere wild ausgeführte Stiche mit dem Messer, das bereits vorher griffbereit auf einem Stuhl gelegen hat. Dann zieht sie dem Toten seinen hellen Pullover aus und streift ihn sich selbst über. Scarpia hat entgegen seiner Behauptung nie über die sprichwörtlich weiße Weste verfügt, Tosca trägt sie aber mit Recht. Am Ende begeht sie keinen irgendwie gearteten Selbstmord, sondern wird von der Marchesa Attavanti erschossen, die sich damit wohl für ihren Verrat des Verstecks ihres Bruders rächen will.

Dieser Ansatzpunkt der Regie war durchaus akzeptabel, neu und erfrischend. Ein kleines Manko in Kusejs Regiearbeit stellt eine nur ungenügende Auslotung der zwischenmenschlichen Beziehungen dar. Nicht immer wird klar, was die beteiligten Personen antreibt. Hier hätte die Personenregie ausgeprägter sein können. Insgesamt kann man die Inszenierung aber durchaus als gelungen bezeichnen.

Nicht nur szenisch, musikalisch wird hier ebenfalls Neuland betreten. Dirigent Marc Albrecht und das ORF Radio-Symphonieorchester Wien warten mit einer ganz anderen Sichtweise der Musik auf, als man es sonst gewohnt ist. Albrechts Auffassung von Puccinis Partitur ist keine romantische und schön klingende. Vielmehr setzt er auf einen harten, kalten, schroffen und analytischen Klang, der nahezu sämtliche Gefühle ausspart. Damit tritt er voll und ganz in das Fahrwasser des Regisseurs. Zu Kusejs Regiearbeit passt dieses Dirigat ausgezeichnet.

Von den Sängern ist es in erster Linie Gábor Bretz als Scarpia, der am meisten überzeugt. Hier haben wir es mit einem phantastischen Sänger zu tun, der mit seinem bestens italienisch geschulten, markanten und ausdrucksstarken Bariton vokal jede Facette des sadistischen Polizeichefs auslotet. Auch darstellerisch vermag der mit einer trefflichen schauspielerischen Ader gesegnete Sänger uneingeschränkt zu gefallen. Als neue Tenorhoffnung gilt seit einiger Zeit Jonathan Tetelman, der in der Rolle des Cavaradossi insgesamt einen angenehmen Eindruck hinterlässt. Sein von großer Schönheit geprägter, eine solide italienische Technik aufweisender sowie große Intensität atmender Gesang ist recht ansprechender Natur. Indes setzt er insbesondere im ersten und zweiten Akt zu sehr auf reine Lautstärke. Differenzieren und Nuancieren scheint seine Sache nicht so sehr zu sein. Erst im dritten Akt findet er auch zu einigen leiseren und gefühlvolleren Tönen. Gegenüber ihren beiden Kollegen fällt die Tosca von Kristine Opolais rein gesanglich ab. Die lyrischen Passagen gelingen ihr ganz passabel. Bei den dramatischen Stellen, in denen sie gerne mal vom Körper weggeht und vibriert, wird indes offensichtlich, dass sie mit dieser Partie deutlich an ihre Grenzen stößt. Für ihre große Arie Vissi d’arte fehlt ihr noch der ganz lange Atem. Schauspielerisch dagegen erbringt sie eine wahre Glanzleistung. Alles, was ihr der Regisseur abverlangt, setzt sie mit Bravour um. Rafael Pawnuk singt mit tadellosem Bass die drei Rollen des Sciarrone, des Mesners und des Schließers. Gefälliges, kraftvolles Stimmmaterial bringt Ivan Zinoviev für den Angelotti mit. Einen besser gestützten Tenor, als man es bei dieser kleinen Partie sonst gewohnt ist, bringt Andrew Morstein für den Spoletta mit. In der stummen Rolle der Marchesa Attavanti ist Sophie Aujesky zu sehen. Der von Erwin Ortner einstudierte Arnold Schoenberg Chor macht seine Sache gut.

Ludwig Steinbach, 13. Oktober 2023


DVD: „Tosca“
Giacomo Puccini
Theater an der Wien

Inszenierung: Martin Kusej
Musikalische Leitung: Marc Albrecht
ORF Radio-Symphonieorchester Wien

Unitel
Best.Nr.: 809608
1 DVD