Buenos Aires: „Madama Butterfly“, Giacomo Puccini

Der erste Eindruck ist tatsächlich seltsam. Diese Seltsamkeit liegt nicht an der (genauen wie liebevollen) Inszenierung und Bühnenausstattung, die man, hat man das sog. „Regietheater“ deutscher Herkunft und Prägung im Blick, als „traditionell“ bezeichnen kann. Es liegt am Höreindruck.

Informiert man sich nämlich in Reiseführern über das Teatro Colón, das zweifellos berühmteste und bedeutendste Opernhaus Lateinamerikas, bekommt man in der Regel die Information, dass das Haus eine hervorragende Akustik besitzen würde. Es stimmt: das Haus „klingt“ tatsächlich wunderbar, es könnte gar nicht authentischer, näher, lebendiger klingen. Das Merkwürdige besteht allein im Umstand, dass wir in der Regel eine derartige Akustik von „unseren“ großen und auch kleineren Opernhäusern nicht mehr gewohnt sind. Denn im Colón vermeiden sie es offensichtlich (oder besser: offenhörlich), an der Lautstärke herumzubasteln, sie zu verstärken, sie, mit anderen Worten, zu verfälschen. Kurz und gut: Es wird in diesem Haus – dies zumindest mein persönlicher Eindruck am Abend des 9. November 2023 – NICHT mikrofoniert. Was also diskret, zurückhaltend, im besten Sinn normal und herkömmlich klingt, erscheint zunächst radikal ungewöhnlich – dabei machen Sänger und Sängerinnen, Musikerinnen und Musiker nichts anderes, als was sie jahrhundertelang gemacht haben: unmanipuliert singen und spielen. Wir sind es nur nicht mehr gewöhnt. Hat man sich aber erst einmal an diese Diskretion gewöhnt, wird der Abend ein musikalisches Fest. Es wirkt nicht durch Präpotenz, sondern durch Poesie, nicht durch aggressive Sound-Attacken, sondern durch Feinheit. Dass die Sänger sich dennoch wie in einem „normalen“ Opernhaus artikulieren können, wenn sie weniger dialogisch-konversationell als, an den „großen“ Stellen (an der Rampe), Hochdramatisches zu sagen/singen haben, äußern können, beweist zuletzt, dass sie nicht schwach, sondern einfach nur gut sind – nur, dass ihnen kein Tontechniker ins Handwerk pfuscht.

(c) Frank Piontek

Und also hören wir mit der Cio-Cio San der Anna Sohn eine „Butterfly“, die nicht nur nicht geyellowfaced werden muss, indem die koreanische Sängerin schon optisch authentisch herüberkommt (zumindest dann, wenn man den gesichtsmäßigen Unterschied zwischen Japanerinnen und Koreanerinnen nicht kennt). Sie singt herzbewegend, mit schönen ausgeglichenen Soprantönen und erfüllt die innigen wie verzweifelten Töne der allmählich eintretenden suizidalen Depression mit Anmut und Kraft: vom ersten zauberhaften Auftritt bis zum finalen Akt. Sie spielt die Cio-Cio San nicht als „Rolle“, sondern hat sie verinnerlicht, so dass kein Blatt mehr zwischen ihr und der Frau passt: die Oper wird zur eine Passionsgeschichte.

Riesenbeifall für die Künstlerin – und für Cecilia Díaz, die Interpretin der Suzuki, auch wenn deren etwas schüttere Höhe nicht über jeden Zweifel erhaben ist; was ihr an vokaler Ausgeglichenheit fehlt, macht sie durch darstellerischen Einsatz wett (merke: Puccinis Opern dienen nicht der Ausstellung rein stimmlicher Fähigkeiten). Sharpless wurde mit Leonardo López Linares rollendeckend besetzt, auch der Goro des Gabriel Centeno macht seine Sache so gut (d.h.: so verschlagen), wie es ein „Heiratsvermittler“ tun sollte. Bleiben die „kleinen“ Rollen, die mit dem Prinzen Yamadori des Fernando Grassi, dem Onkel Bonze des Christian Peregrino und dem „Comisario Imperial“ des Sergio Wamba angemessen besetzt wurden – so wie die Kate Pinkerton der Mariana Carnovali.

Bleibt als männliche Hauptrolle der Pinkerton des Fermin Prieto. Prieto ist ein lyrisch beseelter Heldentenor, der über eine männlich-markante wie sensible Stimme verfügt, die sich den wechselnden Gefühlslagen der Rolle – dem Machistischen wie dem Verliebten – so gut anpasst, dass er einen Pinkerton auf die Bühne stellt, der zwar kritisiert werden muss, aber denn doch jenes Puccini-Gen besitzt, das ihn, alles in allem, zu einem weiteren Opfer dieser geplanten Katastrophe macht. Die Frage bleibt, wie man diese Figur und damit die gesamte Oper interpretieren muss oder kann. Die möglichen Auslegungen gehen, gerade bei DIESER Puccini-Oper, in eine Breite, wie sie sich die Librettisten kaum vorstellen konnten – und selbst und gerade die Musik, die (angeblich) eindeutig ist, hilft gerade nicht weiter. Die letzte Inszenierung der „Butterfly“, die ich in Dresden sehen konnte, behauptete, dass Pinkerton Cio-Cio San wirklich liebt und sich am Ende seines Lebens voller Reue an die Geschichte erinnert, die die Geliebte  als Tote auf dem Schlachtfeld der Emotionen zurückließ. Das funktionierte ganz gut, konnte jedoch – wen wundert’s? –, nicht alle Informationen von Text und Musik auffangen. Und doch spürte man, dass die Musik, die Puccini dem  US-Amerikanischen Leutnant mitgegeben hat, vielleicht klüger ist als die Vernunft, die wir im Zeitalter der Kolonialismus-Kritik an diesen Stoff wenden müssen (im Übrigen sind Widersprüche auch in der Musik viel interessanter als vermeintliche Gewissheiten). Livia Sabag, die vor allem im lateinamerikanischen Raum inszeniert, sieht den Fall Cio-Cio San völlig anders. Für sie ist, da ist sie gar nicht so weit von der Dresdner Interpretation entfernt, die Geschichte als „tragedia anunciada“, als angekündigte Tragödie. Natürlich: wo der Amerikaner vor der Begegnung mit der allzu jungen Frau ausdrücklich davon spricht, dass er es in Kauf nimmt, dem Schmetterling die Flügel zu brechen („se pure infrangerne dovessi l’ale“), sollte der sich seinem Jagdtrieb nicht ergeben, ist es schwer, Partei für den Mann zu ergreifen, auch wenn ihm der Komponist die schönsten, leidenschaftlichsten Melodien auf die Stimmbänder geschrieben hat. In ihrem kurzen Text, den die Regisseurin dem Publikum als Verständnishilfe in das Programmheft schrieb – wer nicht ganz verblödet ist und auf die Bühne schaut, benötigt ihn nicht)  –, in ihrer Erläuterung führt Livia Sabag aus, dass es ihr  „um das Thema des sozialen Abstiegs und der Verarmung im Leben Cio-Cio Sans“ ginge: „Ziel ist es, die soziokulturellen Aspekte, die das zunehmende Leiden der Protagonistin und den tragischen Ausgang der Geschichte verursachen, so gut wie möglich sichtbar zu machen. Der Machismo, unter dem sie von beiden Kulturen – der japanischen und der amerikanischen – leidet, und der explizite Rassismus von Pinkerton, für den die Heirat nichts weiter als eine Scheinheirat ist – der amerikanische Seemann kündigt an, dass er eine ‚echte’, amerikanische Frau heiraten wird – stehen im Mittelpunkt der Szene.“ Dieser Punkt, in dem, so der Butterfly-Regisseur Joachim Herz (der die 2. Fassung auf die Bühne brachte, während in Buenos Aires die normale dritte gespielt wird), die „Härten der kolonialen Situation“ und der „sozialen Bedingnisse“ aufgehoben sind – dieser Punkt ist herkömmlich, aber zugleich differenziert, denn Cio-Cio San wird ja nicht allein vom Amerikaner, sondern, abgesehen von Suzuki, auch von ihren eigenen Leuten diffamiert; die gestisch abfälligen Kommentare ihrer Begleiterinnen während der Hochzeitszeremonie sagen nicht alles, aber viel. Die Bühne zeigt, im traditionellen, doch  durchaus nicht banalen Stil eines symbolistischen Realismus, schon von Anfang an, dass der Beziehung zwischen Pinkerton und Cio-Cio San die Vernichtung innewohnt. Sabag und Nicolás Boni hat das Dorfhaus der Cio-Cio San, ein „minka“, in eine karge Landschaft gestellt; die japanischen Schneegebirge wirken wie alte, abgeriebene Daguerrotypien. Am Ende wird das Haus teilweise zerstört sein, die Wände angerissen, das Dach zerfallen. Ein Schwarzweiß-Video Matiás Otálora) zeigt uns Lawinen von Schlamm und Erde, auch eine durch die Gegend hetzende Frau, die ihre (innere und äußere) Heimat verloren hat. Wenn Kate Pinkerton mit ihrer Tochter die Szene betritt, spielt das Kind mit einer Puppe; auch die Mutter des anderen Kindes des selben Vaters war für ihn nur eine Puppe. Sein Abgang ist der eines feigen Flüchtlings – doch bleibt die Frage wieso er denn doch mit den Rufen („Butterfly! Butterfly!“) das Letzte zu singen hat. Weil es das Publikum mehr ergreifen würde, als es der Suizid der leidenden Frau eh schon tun würde? Weil es ein Opern-Effekt ist? Oder weil Puccinis und Giacosa & Illicas Menschenbild denn doch vielfältiger ist, als es eine durchaus richtige Kritik am männlichen Protagonisten sein könnte?

In diesem Sinne erweist man sich am Ort einer großen Tradition würdig – denn es war im alten Teatro Colón, wo „Madama Butterfly“ im jahre 1905 seine Erstaufführung außerhalb Italiens erlebte. Der Chor und das Orquesta Estable del Teatro Colón haben einen gewichtigen Anteil am Erfolg – denn, und damit kehren wir zum Anfang zurück, es harmoniert so sehr mit der Akustik, dass sich der Zuhörer schon deshalb entspannt zurücklehnen kann, weil ihm zumal die lyrische Versunkenheit, mit der die Musiker die Partitur zum Leben erwecken, schlichtweg beglückt. Liegt es an der, wie gesagt, zurückhaltenden und durch keinerlei technische Tricks aufpolierten Akustik, dass das Orchester im freilich großen Haus sich geradezu ins Ohr schmeichelt? Oder ist es einfach die Kunst des Dirigenten Carlos Vieu, dass der Klang über weite Strecken wie schierer Impressionismus klingt, was vermutlich nicht allein an Puccinis Instrumentationskunst und den modernistischen Harmonien liegt, die er den japanischen Modi abgewann? Die Musik glänzt an diesem Abend nicht durch überbordende Emphase (gewiss, die gibt es auch), sondern durch deliziöse, im piano und mezzoforte ihre Wirkung entfaltenden Hör-Ereignisse.

Weniger ist eben oft mehr – auch an diesem Abend, in dem die Künstlerinnen und Künstler aus Puccinis Meisterwerk durch traditionelle Mittel ein Maximum an zeitlosem Ausdruck kreierten.

Frank Piontek 16. November 2023

In Ermangelung aktueller Bilder ein aktuelles Bild des Hauses 😉


Madama Butterfly
Giacomo Puccini

Teatro Colón, Buenos Aires

Premiere: 7. Oktober 2023
Besuchte Vorstellung: 9. November 2023

Regie: Livia Sabag
Musikalische Leitung:  Carlos Vieu
Orquesta Estable del Teatro Colón