Berlin: „Les vêpres siciliennes“

Palermo – Algier – Odessa?

Leicht gemacht haben es Librettist Eugen Scribe und Komponist Giuseppe Verdi damaligen und jetzigen Regieteams, denn kaum eine andere Oper ist chronologisch und geographisch so exakt in der historischen Wirklichkeit verankert wie Les Vēpres Siciliennes, die am Ostermontag des Jahres 1282 beim Läuten der Vesperglocken in Palermo ihren traurigen Höhe- und Endpunkt hat. Auch das Personal der Oper lässt sich identifizieren, so Giovanni Procida, Leibarzt Friedrichs II. und Anführer des Aufstands gegen Karl von Anjou, dazu Montfort, allerdings im Gefängnis verstorben, und Hélène, die ihren von den Franzosen hingerichteten Bruder rächen will, müsste mit diesem Friedrich von Österreich meinen, der gemeinsam mit seinem Freund Konradin, dem letzten, erst 16jährigen Stauferspross nach der glücklichen Zeit Siziliens unter der Herrschaft Friedrichs II., auf der Piazza del Popolo von Neapel enthauptet wurde. Um auch eine Liebesgeschichte in der Oper unterzubringen, musste allerdings heftig geschummelt werden, denn die historische Helene war bereits Witwe und für die wüste Geschichte von der heimlichen Ehe zwischen Montfort mit einer Sizilianerin, aus der in Sohn entspross, gibt es keinen Hinweis. Wenn also Scribe mogelte, um eine rührende Handlung nicht nur um Kampf und Tod, sondern auch um Liebe auf das Papier zu zaubern, dann blieb Verdi in seiner Musik umso ehrlicher dem Handlungsort verbunden, unter anderem mit einer Tarantella und einer Siciliana, das den Anforderungen an eine Grand Opera geschuldete Ballett aber strich er aus der italienischen Fassung des Werks, deren Uraufführung der französischen im Jahre 1855 auf dem Fuße folgte. Diese Version erlangte denn auch trotz des Erfolgs der französischen Fassung in Paris weltweit eine ungleich größere Popularität als die Urfassung, erst in der letzten Zeit haben sich viele Opernhäuser wie München, Amsterdam, London, Palermo (!), Rom, Genf oder Bonn der französischen Fassung angenommen, an der Lindenoper gab es kurz vor der Wende die italienischen Vespri in einer durch Mauer und Stacheldraht verunzierten Produktion von Harry Kupfer/Kurt Schawernoch.

Wer den Briefwechsel Verdis mit seinen Librettisten kennt, der weiß, dass es dem Komponisten um die leidenschaftlichen Konflikte zwischen den Individuen ging, die er immer wieder einforderte, um die er geradezu flehentlich bat. Moderner Regie scheint es eher um Ort und Zeit einer Handlung zu gehen als um die in ihnen lebenden Persönlichkeiten. Bei der Suche nach einem „tagesaktuellen Bezug Scribes und Verdis“ glaubte Olivier Py “hinter der Fassade“ der Sizilienoper „einen Kommentar… zur Eroberung Algeriens….freigelegt“ zu haben und siedelte das Stücks flugs um in das nordafrikanische Land und in die Entstehungszeit der Oper, zeigt allerdings auch moderne Feuerwaffen. Eine sehr unglückliche Idee, da Frankreichs Herrschaft über das Land nicht erschüttert, sondern befestigt wurde in der angepeilten Zeit, da Frauen keine führende Rolle im algerischen Freiheitskampf spielten, da die Musik zu großen Teilen von Sizilien erzählt und Volksszenen wie eine fröhliche Hochzeit im Freien im islamischen Land nicht stattfanden. Dem Wunsch, eine ganz tolle Idee von Aktualisierung ( na ja, auch schon fast 200 Jahre her) einer zeitlich und geographisch anders zu verortenden Oper überzustülpen, führt einmal mehr zu einer Missgeburt, wie sie das schlimmste Libretto nicht zustande gebracht hätte. Vor noch Schlimmerem bewahrt hat die Verdi-Oper und die Zuschauer allerdings der späte Beginn des Kriegs in der Ukraine, denn zu weit waren die Proben bereits gediehen, als dass man aus Palermo nicht Algier, sondern schnell noch Odessa hätte machen und eine ukrainische Fahne zum Schluss hätte zeigen können. Aber vorstellen darf man es sich, wie Olivier Py es uns zugesteht, und so kann man nur hoffen, dass nicht allzu viele Zuschauer nächtens von einem Montfort- Putin-Gespenst heimgesucht werden.

Schlimmer als alle chronologischen Extravaganzen sind Regieeinfälle, die es den Sängern erschweren, den bestmöglichen Eindruck beim Publikum zu hinterlassen, so wenn ein Montfort seine große Arie in Schiesser-Feinripp singen muss, dazu drei Kronleuchter unermüdlich hoch- und runtergefahren werden, der Dirigent im Spiegel auf der Bühne bei der Arbeit zu sehen ist und eine Untote mit Kinderwagen das Baby Henri über die Bühne kutschiert und sich zu allerlei gymnastischen Übungen hinreißen lässt. Ähnlicher Sünden gibt es einige und auch die Bühne und die Kostüme von Pierre-André Weitz in ihrem trostlosen Grau entsprechen nicht der Musik, auch wenn mangelnde Farbe durch ein andauerndes Drehen und Wenden der Kulissen ersetzt werden soll. Will man auf das Ballett, das den Konventionen der Grand Opéra geschuldet ist, nicht ganz verzichten, dann ist ein Fußballspiel mit einem menschlichen Kopf anstelle des Balls keine gute Idee, so wenig wie die Bebilderung der Sinfonia, die ein Potpourrie der bekanntesten Melodien darstellt. So anfechtbar, wenn auch nicht so schrecklich wie bereits Erlittenes, die optische Umsetzung war, so hocherfreulich waren die musikalischen Leistungen, angefangen bei einem hörbar hochmotivierten Chor unter Jeremy Bines, von dem einige Mitglieder Masken tragen mussten (ungeimpft?). Auch das Orchester unter Enrique Mazzola, bereits oft erprobter Dirigent in italienischer und französischer Oper, sah sich zu Höchstleistungen animiert, die Sänger wurden auf Händen getragen. Da fehlte weder der Mut zu einem getragenen ersten Finale noch der zu einem rasanten Brio für diese eigentlich doch sehr italienische Oper.

Vielleicht noch wohler in der italienischen Fassung hätten sich die Sängersolisten gefühlt, so der Henri von Piero Pretti, der bereits in Turin den Arrigo gesungen hat und der mit einem elegant geführten Tenor, der auch seine letzte Arie noch in schöner Frische und ohne Furcht vor den extremen Acuti sang, nachdem er bereits in seiner großen Arie facettenreich überzeugen konnte. Zunächst durch pure vokale Kraftentfaltung überzeugen wollte wohl Thomas Lehman, ehe er zunehmend und dann perfekt in seiner Arie nicht nur durch einen heldischen Bariton, sondern auch durch feine Schattierungen überzeugte. Bereits mit seinem allerersten Ton, einem wie aus dem Nichts erwachsenden Crescendo, verblüffte Roberto Tagliavini als Procida, der seine Arie auf „Palerme“ von aller Wunschkonzertbehäbigkeit befreite und so erklingen ließ, als höre man sie zum ersten Mal. Mit ihm erlebte man einen geradezu idealen basso profondo. Große Erwartungen hatte Hulkar Sabirova als Einspringerin in Don Carlo erweckt und konnte ihnen an diesem Abend aufs schönste entsprechen. In ihrer Stimme verbinden sich Koloraturgeläufigkeit und dramatische Durchschlagskraft miteinander, ihr Piano ist von bemerkenswerter Farbigkeit und Präsenz und die vielen schwierigen Intervallsprünge in ihrer Partie klangen sicher, die Intonation auch in den A- capella-Teilen makellos. Nicht nur die vier Protagonisten, sondern auch alle anderen mussten viel aus leeren Fensterhöhlen, in denen das Grauen wohnte, stieren, und sie taten das mit Anstand wie Arianna Manganello als Ninetta, Andrew Dickinso n als Danieli und Martina Metzler-Champion als Mére Palerme, die mit dem Feudel unermüdlich über den Boden fegte, als sei schon wieder die Götterdämmerung auf dem Spielplan.

Fotos Marcus Lieberenz

20. März 2022 / Ingrid Wanja