Besuchte Aufführung: 19.4.2015 (Premiere: 12.4.2015)
Verführung zum Verführen auf der Bowlingbahn
Bis heute rätselt die Musikwelt darüber, warum Gioachino Rossini, einer der erfolgreichsten Komponisten seiner Zeit, 1829 mit gerade einmal 37 Jahren das Schreiben von Opern gänzlich aufgab. Am ehesten dürfte die Annahme zutreffen, dass Rossini bereits in seiner Lebensmitte am Ende seiner kompositorischen Möglichkeiten angelangt war. Bei seinem letzten, 1829 uraufgeführten Werk „Guillaume Tell“ schöpfte er zum Abschied noch einmal aus dem Vollen. Indes wurde schon an seiner ein Jahr zuvor aus der Taufe gehobenen, vorletzten Oper „Le Comte Ory“, die jetzt am Münchner Cuvilliéstheater eine beachtliche Neuproduktion erfuhr, offenkundig, dass ihm die musikalischen Ideen allmählich ausgingen. Es drängte sich der Eindruck auf, in einer Aufführung von Rossinis bereits 1825 entstandener Oper „Il viaggio a Reims“ gelandet zu sein. Der Komponist dürfte 1828 unter einem ausgemachten Kreativitätsmangel gelitten haben: Mindestens zwei Drittel der Musik zum „Comte Ory“ sind der „Viaggio a Reims“ entnommen – eine wahrlich nicht gerade originelle Vorgehensweise Rossinis, dessen musikalische Phantasie allmählich verebbte.
Matthew Grills (Le Comte Ory), Extrachor
Zumindest demjenigen, der die „Viaggio a Reims“ nicht kennt und damit von dem selbstplagiatorischen Charakter des Werkes keine Ahnung hat, wird der „Comte Ory“ indes durchaus Freude bereiten. Noch dazu, weil sich die junge Oksana Lyniv, ihres Zeichens Assistentin von GMD Kirill Petrenko, der Musik mit viel Liebe annahm. Sie dirigierte das Stück mit rhythmischer Prägnanz und Ausgewogenheit sowie mit klug gesetzten Akzentuierungen, wobei ihr das lustvoll aufspielende Bayerische Staatsorchester ein zuverlässiger Partner war. Präzision und Detailgenauigkeit waren an diesem Abend angesagt. Es war schon ein sehr energiegeladener, feuriger Duktus, den die ukrainische Dirigentin und die Musiker an den Tag legten und dabei eine Tiefgründigkeit erreichten, die über die altgewohnte Rossini-Spritzigkeit hinausging. Dass Frau Lyniv bei ihrer Interpretation von herkömmlichen Deutungsmustern abwich, war indes kein Fehler, sondern vielmehr eine treffliche Weiterentwicklung Rossini’scher Klangwelten, die durchaus zu beeindrucken wusste. Und dass sie ihren Weg als eigenständige Dirigentin machen wird, daran kann kein Zweifel bestehen. Das Potential dazu hat sie in hohem Maße.
Als Regisseur konnte Marcus H. Rosenmüller gewonnen werden, der einem Großteil des Publikums durch seine Arbeiten für den Film und das Singspiel auf dem Nockherberg ein Begriff sein dürfte und sich mit dem „Comte Ory“ zum ersten Mal in die Gefilde der Oper vorwagte. Und das auf durchaus beachtliche Art und Weise. Er setzte das Stück mittels einer logischen, flüssigen Führung sämtlicher Personen einschließlich des Chores quicklebendig, heiter und temporeich in Szene, wobei er mehr der jeweiligen Situationskomik als der übergeordneten Linie huldigte. Der Augenblick war ihm wichtig, nicht der große Zusammenhang. Da war es dann auch kein Wunder, dass die einzelnen Szenen sehr sequenzartig wirkten und im Gesamtgefüge der Handlung oft etwas isoliert dastanden. Das mag daran gelegen haben, dass sich Rosenmüller rein vom Technischen her auch bei der Oper zu stark seiner ursprünglichen Welt verhaftet zeigte. Das häufige Einsetzen von filmartigen Schnitten hatte eine lose Aneinanderreihung einzelner Szenen zur Folge, denen indes der rote Faden fehlte – ein Phänomen, dass man auch schon bei anderen Filmregisseuren, die sich mehr oder weniger erfolgreich an der Oper versuchten, beobachten konnte.
Immerhin hat er das Stück gekonnt modernisiert und die Handlung zusammen mit seiner Bühnenbildnerin Doerthe Komnick und der für die gelungenen zeitgenössischen Kostüme verantwortlichen Sophia Dreyer in eine Bowlingbahn mit Neonlichtern und Leuchtreklamen verlegt. Von dem ursprünglichen Handlungsort eines Schlosses zeugt nur noch der Schriftzug „Chateau“. In diesem Ambiente erweist sich der im lila Anzug auftretende Comte Ory, der sich auch einmal unter der Dusche präsentieren darf, als Verführer der etwas anderen Art. Von Rossini und seinen beiden Librettisten Eugène Scribe und Charles-Gaspard Delestre-Poirson ursprünglich einem traditionellen Don Giovanni nachempfunden, erteilt Rosenmüller der herkömmlichen negativen Sichtweise der Titelfigur, die ihm sehr sympathisch zu sein scheint, eine klare Absage und deutet sie auf der ganzen Linie positiv.
Elsa Benoit (La Contessa), Matthew Grills (Le Comte Ory), Rachael Wilson (Ragonde),
Dem unserer Zeit angeglichenen äußeren Rahmen entspricht es, wenn Ory hier kein Graf ist, sondern Angehöriger einer Rockband, deren weitere Mitglieder ihn noch vor Einsetzen der Ouvertüre, die Bühne durch den Zuschauerraum betretend – mit Brecht kann der Regisseur umgehen -, verzweifelt suchen. Der Protagonist gehört indes nicht nur ihnen, sondern dem ganzen Volk. Er ist der Held, auf den sie alle ihre Wünsche und Sehnsüchte projizieren – Feuerbach lässt grüßen – und ihm alle möglichen Fähigkeiten zuschreiben, die man ihm gar nicht zugetraut hätte, wie beispielsweise wunderheilen. Aber Idole können eben alles.
Ensemble und Extrachor der Bayerischen Staatsoper
In konsequenter Fortführung dieses Ansatzpunktes ist Ory hier auch kein böswilliger Verführer, der die Frauen manipulieren muss, um sie ins Bett zu kriegen. Vielmehr ist es das weibliche Geschlecht selbst, allen voran die Fitnessstudio-Reinigerin Adèle – auch sie wurde von der Regie ihrer adeligen Herkunft entbunden -, das die Initiative ergreift, um in seine amourösen Fänge zu geraten. Insbesondere im zweiten Akt setzt die Comtesse mit einem Höchstmaß an Aktivität alles daran, von dem liebenswerten Schwerenöter abgeschleppt zu werden, hat dabei die Rechnung aber ohne Isolier, einen Prototyp des romantischen Liebhabers, gemacht, der mit ebensolcher Intensität seine ganze Kraft aufwendet, um die geliebte Adèle vor Orys Klauen zu bewahren. Es trägt viel zum Unterhaltungswert der Inszenierung bei, dass der Regisseur in den Liebesdingen nicht allein die Initiative des Titelhelden in den Vordergrund stellt, sondern von Anfang an alle Hauptpersonen gleichermaßen intensiven erotischen Bestrebungen nachgehen lässt, die logischerweise irgendwann aufeinanderprallen müssen. Und dann erreicht die Turbulenz ihre Spitze. Das Terzett zwischen Ory, Adèle und Isolier im zweiten Akt, in dem die Titelfigur im ausladenden Nonnenkostüm erscheint – herrlich! -, gerät unter dieser Voraussetzung zu einem absolut köstlichen Höhepunkt. Insgesamt war die seitens der Damen an den Tag gelegte, zum allgemein gepflegten Sport – insoweit war das Ambiente der Bowlingbahn hervorragend gewählt – ausgeartete Verführung zum Verführen ausgesprochen vergnüglich. Obwohl es Rosenmüllers Inszenierung letztlich etwas an geistig-innovativem Tiefgang mangelt, gelungen ist sie allemal.
Ensemble und Extrachor der Bayerischen Staatsoper
Gesanglich wurde der Abend von den Mitgliedern des Opernstudios der Bayerischen Staatsoper bestritten. Da gab es so manche Entdeckung zu machen. Einige der aufgebotenen Nachwuchssänger hätten sich bereits jetzt ein reelles Festengagement an einem guten Opernhaus redlich verdient. In erster Linie zu begeistern wusste Elsa Benoit, die der Comtesse Adèle mit in jeder Lage bestens fokussiertem, fein und elegant geführtem und sowohl in gefühlvoll-lyrischen als auch in dramatischen Passagen gleichermaßen gut ansprechendem Sopran ein treffliches Profil verlieh. Auch darstellerisch vermochte sie durch herrlich aufgewecktes, intensives Spiel für sich einzunehmen. Enorme Spiellust und eine treffliche schauspielerische Leistung kann man auch Matthew Grills’ Comte Ory bedenkenlos bescheinigen. Stimmlich blieben indes Wünsche offen. Zwar bewältigte er auf seine Art die extremen Höhenflüge der Partie gut und zeigte sich auch vokal wendig und flexibel, indes mangelt es seinem durchaus schönes Material aufweisenden, aber entwicklungsfähigen Tenor im Augenblick noch an einer soliden tiefen Verankerung im Körper und einem schönen appoggiare la voce. In dieser Beziehung war ihm Marzia Marzo in der Hosenrolle des Isolier weit überlegen. Bei dieser über einen famos gestützten, tiefgründigen Mezzosopran mit beachtlichem dramatischem Potential verfügenden Mezzosopranistin dürfte es bis zu einer Rosina und einer Cenerentola wohl nicht mehr allzu lange dauern. Eine ebenso hohe Stimmkultur wies die Ragonde ihrer Fachkollegin Rachael Wilson auf. Erlesenes Stimmmaterial brachte Maria Pitsch für die Alice mit. Als Raimbaud und Gouverneur wetteiferten John Carpenter und Leonard Bernad um hohe sonore Basskultur und imposante tiefe Töne. Solide rundeten Andreas Smettan und Evgenij Kachurovski als die beiden Coryphées das homogene Ensemble ab. Auf hohem Niveau bewegte sich der von Sören Eckhoff einstudierte Extrachor der Bayerischen Staatsoper.
Fazit: Eine sehr lebendige Aufführung mit hohem Unterhaltungswert, die dem Opernstudio der Bayerischen Staatsoper alle Ehre macht und deren Besuch sich sicherlich lohnt.
Ludwig Steinbach, 22.4.2015
Die Bilder stammen von Wilfried Hösl