besuchten Vorstellung 13.10.2019
Eine Bibliothek präsentiert mit ihren tausenden Büchern normalerweise einen weltoffenen Ort für Kunst, Kultur und Wissenschaft und Bildung. Menschen die Bücher lesen, öffnen sich für Neues, erweitern ihre Horizonte und steigen ein in den Diskurs. In Krzysztof Warlikowskis Inszenierung der „Salome“ an der Bayerischen Staatsoper München bildet eine Bücherei, die Wände reichen bedrohlich hoch bis zur Decke, den szenischen Rahmen für die Oper von Richard Strauss. Die Bibliothek dient hier als Versteck für eine Gruppe von Menschen jüdischen Glaubens im faschistischen Polen der 1940er Jahre. Dieser literarische Rückzugsort voller Nachschlagwerke, die das Wissen ganzer Generationen beinhaltet, verkörpert hier ein Gefühl der Enge und keine Bibliothek im klassischen Sinne, sondern vielmehr das kühle Gefängnis für unschuldige Menschen einer zur damaligen Zeit verachteten Religion. Paranoid nimmt der Zeitvertreib dieser aus Rabbinern und deren Familien bestehenden Gesellschaft immer skurrilere Formen an, bis sie eines Tages eine alttestamentarische Erzählung nachspielen: Salome verlangt zu ihrer eigenen Lust den Kopf von Johannes dem Täufer – hier genannt Jochanaan – doch damit werden seine düsteren Prophezeiungen plötzlich zur bitteren Realität!
Der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski ist dafür bekannt, bei seinen Opernstoffen keine bloße Nacherzählung auf die Bühne zu bringen, sondern vielmehr jede Handlung parallel mit seiner eigenen Geschichte versehen komplett neu zu erzählen. Insbesondere in dieser, zu den Opernfestspielen 2019 neuinszenierten „Salome“, gelingt es ihm hervorragend, die jüdische Charakteristik einer 2000 Jahre alten Geschichte in Verbindung mit der mitunter dunkelsten Epoche des Judentums – den Zeiten des Holocausts – zu setzen. Es ist eine überaus heterogene Gesellschaft von individuellen Menschen mit all ihren positiven als auch negativen Eigenschaften, die miteinander lediglich durch ihren jüdischen Glauben verbunden sind. Die verschrobenen Eigenschaften von Herodes und seiner Gattin Herodias kommen auch in dieser Inszenierung gut zur Geltung, während einige andere jüdische Rollen weitaus bodenständiger, reflektierter und berechenbarer gezeichnet sind. Gemeinsam scheinen die Menschen in ihrer Gefangenschaft auf einen Propheten, mitunter gar auf einen Erlöser zu warten, der die Schrecken und Verbrechen des NS-Regime beenden wird. Der Schleiertanz der Salome mutiert hier zu einer Rotation der jüdischen Prinzessin mit dem Tod in personifizierter Darstellung eines Tänzers. Am Schluss der Oper, bei der Anweisung von Herodes „Man töte dieses Weib“ schluckt die gesamte jüdische Gemeinde Zyankalikapseln, da die Stimme des Propheten Jochanaan verstummt ist scheint es für die Gemeinschaft der in der Bibliothek Gefangenen keine Hoffnung mehr zu geben.
Nein, nicht die feste hochdramatisch-schrille Stimme einer Isolde, einer Brünnhilde oder einer Elektra: Marlis Petersens Stimme klang ganz nach der eines 16-jährigen Mädchen, eine „Salome“, ganz wie sie sich der Komponist Richard Strauss wohl gewünscht haben muss. Verführerisch und unschuldig spielend, ganz wie ihre „Lulu“ – der ehemaligen Paraderolle von Marlis Petersen – bewältigte die Sopranistin den fordernden Schlussgesang auf ihre ganz persönliche Art, einer Mischung aus Deklamation mit Koloraturgesang, atemberaubend und fesselnd! Seit den legendären Interpretationen der Ljuba Welitsch – sie sang die Salome zum 80. Geburtstag des Komponisten Richard Strauss – dürfte es keine substanziellere Charakterstudie der „Salome“ geben haben, als gerade jene von Marlis Petersen. Kirill Petrenko am Pult des Bayerischen Staatsorchesters sorgte für eine ungewohnt zurückhaltende Interpretation wodurch die poetische Stimme von Marlis Petersen umso mehr zur Geltung kam. Der Dirigent ließ seine Musiker den wilden Stoff geradezu transzendental durchhörbar, aber gleichermaßen präzise spielen, wobei er lediglich im Schleiertanz das Orchester entfesselte schrill aufbrausen ließ.
Notenwerte und Tonhöhen sind – im positiven Sinne zu verstehen – für eine ausdrucksvolle Sopranistin wie Doris Soffel in der Rolle der „Herodias“ nur ein grober Richtwert, impulsiv sang diese „Grande Dame“ der Opernbühne vielmehr aus dem Affekt heraus laut, schrill und eindringlich. „Das Weib ist irre“ um es mit den Worten Richard Strauss zu sagen. Ihre expressive Darstellung ist genauso unangefochten wie ihre allgegenwärtige Bühnenpräsenz. Sie ging szenisch vollkommen in ihrer Darstellung auf, so dass man fast vermuten möge, Doris Soffel sei im privaten Leben geradezu die „Klytämnestra“ oder die „Herodias“, die sie auf der Opernbühne darstellt. Ihr gegenüber stellte Wolfgang Ablinger-Sperrhacke als Gegenpol einen lyrischen und geradezu umsichtigen Herodes dar. Obgleich szenisch und mimisch bizarr und rollendeckend, gestaltete er seine Rolle penibel auf der Linie singend.
Wolfgang Koch ist gewissermaßen die Institution als dramatischer Bariton für Wagner- oder Strausspartien an der Staatsoper München. Die Rolle des Jochanaan lag ihm wohl besser als jede andere: Leicht mürrisch schauend, gleichwohl mit sonorer, schwermütiger, teils gebrochener Stimme überzeugte er in stimmlich absolut bravourös. Im Schlabberlook mit zerfetztem Pulli und Birkenstocks brauchte Wolfgang Koch keine Perücke, denn seine langen Haare fügten sich szenisch optimal in das Rollenportrait des einsamen Propheten ein.
Man mag der Inszenierung anlasten, dass sie nur durch intensive Nachbereitung und Studium des Programmhefts oder den Besuch des Einführungsvortrags wirklich verständlich wird. Insofern beim Zuschauer jedoch die grundlegende Verbindung zwischen dem Warschauer Ghetto und der alttestamentarischen Erzählung einmal hergestellt worden ist, wirkt diese Inszenierung durch ihren hochdramatischem Spannungsbogen und präziser Personenregie vollends schlüssig und wird den Zuschauer auch nach Fall des Bühnenvorhangs nicht mehr loslassen.
Fotos © Wilfried Hösl
Phillip Richter, 19.10.2019
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