am 4.12.2018
Die Oper in Nantes bekam einen neuen Intendanten: Alain Surrans, bis vor kurzem Direktor der Oper in Rennes, der den Auftrag bekam, aus dem Opernhaus-Duo Nantes/Angers ein Trio Angers/Nantes/Rennes zu schmieden. Ob es zu einer wirklichen Fusion der drei Häuser kommen wird, wie die „Opéra du Rhin“ in Straßburg, die die Opern von Strasbourg, Mulhouse und Colmar vereint, steht noch in den Sternen, vorerst werden einmal zwei Produktionen im Jahr in den drei Städten gespielt. Auf jeden Fall kann man den Politikern zur Intendantenwahl gratulieren, denn hier wurde ausnahmsweise ein wirklicher Opernfachmann gewählt, und nicht, wie jetzt so oft, irgendein Marketingchef mit guten Kontakten zur Industrie, von dem man sich dann hauptsächlich irgendwelche Nebeneinnahmen erhofft. Schon das Vorwort im Programmheft, in dem Alain Surrans erklärt, warum er in seiner ersten Spielzeit gerade diese so wunderschöne aber leider so selten gespielte Oper von Jules Massenet gewählt hat, ist eine reine Wonne. Denn hier schreibt ein Intendant, der nicht nur weiß, dass Massenet 35 Opern geschrieben hat, sondern der diese auch kennt (heute eher eine Seltenheit).
Und weil er sich bei Massenet auskennt hat er im Vorfeld die drei wichtigsten Entscheidungen getroffen, die den Erfolg einer „Cendrillon“ (Aschenbrödel) ausmachen. Als erstes hat er die Rolle des Prince Charmant mit einer Frau besetzt, einem „falcon“ (nach der Sängerin Marie Cornelie Falcon), ein Stimmtypus den Massenet besonders liebte und oft einsetzte. Doch leider wurde 1978 bei der allerersten Platteneinspielung („Welterstaufnahme“) die Rolle an Nicolai Gedda gegeben, was für ein schweres Missverständnis sorgte, das bis heute anhält. Denn immer noch wird hier und dort die Rolle des Prinzen von einem Tenor gesungen, was ein schwerwiegender Form- und Stilfehler ist, so als ob man Cherubino oder Octavian mit einem Mann besetzen würde (damit verliert das Schlusstrio vom „Rosenkavalier“ komplett seinen feinen Hauch). Die zweite Entscheidung war, die Ballette nicht zu streichen – sie gehören nun einmal zur französischen Oper des 19. Jahrhunderts. Und last but not least wurde ein Regisseur und Ausstatter engagiert, der eine „Märchen-Oper“ inszeniert und nicht irgendein Politik-Drama, wie noch unlängst bei der französischen Erstaufführung von Offenbachs „Rheinnixen“ in Tours.
Den Altmeister Ezio Toffolutti (1944 in Venedig geboren) braucht man wohl nicht mehr vorzustellen, auch wenn er vielleicht in Wien mehr als Bühnenbildner denn als als Regisseur bekannt ist. Die Bühnenbilder und Kostüme sind nicht nur ästhetisch und gut bespielbar, sie haben auch wirklich etwas mit dem Stück zu tun. Da hat endlich mal jemand wieder wirklich gearbeitet, die vielen Dokumente zur Uraufführung genau studiert, die stückimmanenten Schwierigkeiten analysiert und begriffen, was den besonderen Charme von „Cendrillon“ ausmacht.
Es war zum Beispiel eine Sensation bei der Uraufführung 1899 in Paris, dass zum aller ersten Mal Elektrizität auf der Bühne und im Kostüm der Fee eingesetzt wurde (was Toffulutti, auch sein eigener Ausstatter und Beleuchter, nun auch mit viel Fingerspitzengefühl getan hat).
Die Choreographie von Ambra Senatore ist nicht so verfeinert und bis in kleinste Detail liebevoll ausgearbeitet wie die Regie und Ausstattung, sie ist aber dafür nicht weniger gelungen. Die Choreographin kam mit nur sechs Tänzern des Centre Chorégraphique National de Nantes für mehr als eine halbe Stunde Ballett. Und da diese (damals in Paris obligaten) Ballette im zweiten Akt mit ihren hochtrabenden Namen „Les Mandores“, „La Florentine“ und „Le Rigaudon du Roy“ musikalisch und inhaltlich schwer zu interpretieren sind, werden sie meistens gestrichen. Wenn man sich aber in sie vertieft, versteht man, dass es köstliche Parodien sind von den „Comédies-Ballet“ am Hofe Ludwig des XIVe, wie der bekannte „Le Malade imaginaire“ (der Eingebildete Kranke) von Molière, den Massenet wahrscheinlich vor Augen hatte als Karikatur der damaligen Hofgesellschaft. Und diese Karikatur ist Ambra Senatore meisterhaft gelungen, indem sie den Chor hat tanzen zu lassen. Chordamen sind nun einmal keine Ballerinen und in Nantes gibt es einige, die man ohne böse Ironie als besonders großbusig und kurzbeinig beschreiben könnte. Und genau diese Damen tanzten nicht in der letzten, sondern in der ersten Reihe im Unterrock als köstlich karikierte Hofschranzen. Deswegen geht unser größtes Lob an die Darsteller des Choeur d’Angers Nantes Opéra, geleitet durch Xavier Ribes, nicht nur für den Gesang, sondern vor allem für den Tanz!
Der musikalische Aspekt des Abends war gut, aber für feine Merker-Ohren, und dann auch noch mal für einen Merker, der diese Oper besonders gut kennt, nicht einwandfrei. Das lag vor allem am Dirigenten. Die Märchenoper – Massenet schrieb zum einzigen Mal „contes de fées“ unter einen Operntitel – hat zwei Aspekte: das französische Aschenbrödel-Märchen von Charles Perrault – das im Gegensatz zur deutschen Fassung der Brüder Grimm in der (halb)adeligen Hofwelt angesiedelt ist – und die Massenet-typische Flucht in eine Traumwelt: die zentrale Szene der Liebenden spielt im Traum, in dem die Träumenden schlafwandelnd durch die Fee zusammengeführt werden. Wenn die Hofwelt zu laut und dominant wird, kann die Traumwelt nicht mehr in aller Feinheit aufblühen. Massenets bekannteste Traumszene ist die berühmte „Méditation“ von „Thaïs“: keine Handlung, nur das langsame Aufhellen des Nachthimmels vor dem Erscheinen der Morgenröte. Begleitet durch ein leises Summen des Chores „à bouche fermée“ (mit geschlossenem Mund). Wenn man den Chor aber gleich singen lässt, bricht der Tag schon an bevor Massenet als begnadeter Orchestrator seine feinen Farben zart hat aufleuchten lassen.
Genau das passierte nun: Claude Schnitzler spielte in Nantes, inspiriert durch die wunderbare Inszenierung von Ezio Toffolutti, „Cendrillon“ viel langsamer als vor einigen Jahren in Lille, aber für unsere Ohren noch immer viel zu schnell und vor allem viel zu laut. Als das Orchestre national des pays de la Loire verstummte und Cendrillon, halb im Schlaf, sich a capella an das Wiegenlied erinnerte, das ihre verstorbene Mutter früher für sie gesungen hatte, und danach ins Kopfkissen „Maman“ hauchte (übrigens auf der Platte gestrichen), war dies für mich der musikalische Höhepunkt des Abends. Schade, wir hätten Rinat Shaham als Cendrillon und Julie Robard-Gendre (für uns die schönste Stimme des Abends) als Prince Charmant gerne in besseren Bedingungen gehört. Der bekannteste Sänger war François Le Roux als Pandolphe, der gutherzig-dumme Vater von Cendrillon. Le Roux war vor dreißig Jahren der Pelléas in Frankreich bis er vor zwanzig Jahren zum Golaud wechselte und ist nun ins Bass-Baryton-Fach „abgesunken“. Doch Pandolphe wurde Lucien Fugère „auf den Bauch geschrieben“, einem von Massenets Lieblingssängern, ein gemütlicher und urkomischer Bass-Buffo, der bei der Uraufführung schon 51 Jahre alt war. Doch er hatte eine solch wunderbare Stimme, dass Massenet noch viele andere Rollen für ihn geschrieben hat und Fugère erst mit 85 Jahren seinen Bühnenabschied als Bartolo gab. Und so eine Bass-Stimme besitzt Leroux leider nicht.
Pandolphes ehrgeizige Gattin, Madame de la Haltière, wird meistens auch mit einem älteren Sänger besetzt. Rosalind Plowright hat zwar die Stimme für die große Arie „Lorsqu’on a plus de vingt quartiers“, aber nicht das einwandfreie Französisch und die perfekte Diktion von Le Roux. Marianne Lambert fehlten als gute Fee die Spitzentöne – aber die hätte sie vielleicht gehabt, wenn der Dirigent sie – und die ganze übrige Besetzung – nicht so gehetzt hätte. Aber dies ist Klagen auf Merker-Niveau, denn das Publikum war begeistert und spendete einen fast zehnminutigen Schlussapplaus. Die sehr variierte erste Spielzeit von Alain Surrans geht weiter und wird im Juni enden mit dem „Fliegenden Holländer“, eine Übernahme aus Hagen, die dann auch in Angers und Rennes gespielt werden wird. Wir sind gespannt!
Waldemar Kamer 7.12.2019
©Jean-Marie-Jagu – Angers Nantes Opéra