Premiere: 29.9. 2019. Besuchte Vorstellung: 13.10. 2019
Natürlich gibt es auch an diesem Abend keine wie auch immer geartete „Erlösung“ für den Infanten. Für Verdi selbst war die Szene der Entrückung des Don Carlos in ein Kloster mit Hilfe eines Mönches, der vielleicht ein Wiedergänger Karls V. oder gar dieser selbst sein könnte, zurecht ein „schwarzer Punkt“, dem auch die Vermutung, dass eine Oper per se irreal ist, nicht wirklich weiterhilft. Zweifellos ist hier eine Interpretation nötig: zumal dann, wenn die Oper in einem gegenwärtigen Opern-Ambiente spielt. Dass aber schließlich die Königin mit einem Baseballschläger hingerichtet wird, indem die bad guys aus Phillips mieser Mafiatruppe ihr den Schädel einschlagen – das ist, glaube ich, zu viel des Schlechten. Denn irgendwann hat man begriffen, dass die Welt eben schrecklich ist: auch, dass man „Don Carlos“ mit exzessiver Brutalität keinen Dienst erweist, was nicht heißt, dass die Einblendung schrecklicher Dokumentarfilme aus Bürgerkriegen „stören“ würden; ob wir es mit Toten aus den spanischen Niederlanden oder aus einem laufenden Krieg zu tun haben, ist (leider) gleich gültig. Der König aber, wie ihn die Librettisten und, dies vor allem, Verdis genaue Musik zeichnen, ist nicht der Killertyp, den die neue Nürnberger Inszenierung des regieführenden Intendanten Jens-Daniel Herzog auf die Bühne bringt, zumal das Entsetzender Ekel Philipps vor den eingespielten Real-Videos angesichts seiner sonstigen Brutalität das Gegenteil von glaubwürdig ist – oder wollte man hier einen gespaltenen Charakter andeuten? Dessen realistische Zeichnung am Ende dem bloßen Einfall geopfert wurde?
Freilich passt die Stimme Nicolai Karnolskys zu eben dieser Rollenauffassung. Sein Philipp ist, in seiner berühmten Schmerzensarie, weniger von des Gefühles Blässe angekränkelt als dass er seinen Schmerz buchstäblich coram publico verkündet. Gestört wird er – leider auch das Publikum – allerdings durch sein Kind, die kleine Infantin, die im Hintergrund sitzt und Computerspiele spielt (und im Übrigen gut agiert: Jana Beck). Es genügt, um sensiblere Zuschauer vom Wesentlichen abzulenken, denn man ignorierte hier leider wieder das gute alte Bühnenmotto: Keine Kinder! Die Szene ist, trotz Karnolskys Deutlichkeitseinsatz, leider musikdramatisch hin; weniger wäre auch hier wesentlich mehr gewesen. Um diese These zu belegen, muss man sich nicht einmal uralte Filme mit Boris Christoff anschauen, der bekanntlich einen wirklich tiefgründig-bohrenden Bass sein eigen nannte. Im neuen „Don Carlos“ wird Philipp dagegen zu einem Autokraten der Macht, dessen Empfindlichkeit sich darin äußert, dass er sein Kind schlägt und Posa persönlich von hinten niedersticht, vulgo: hinrichtet. Zugegeben: es gibt Ansätze der Differenzierug (so etwa, wenn der König Posa den Bombenkoffer zurückgibt und ihn schreiend vor dem Inquisitor warnt), aber das grundsätzliche Problem dieser Auffassung liegt nicht nur darin, dass die Psychologie, die Verdi und seine Librettisten dem König schenkten, beim Teufel ist. NEIN, der König ist kein Killer, sondern eine tragische Persönlichkeit, über die zu richten unmöglich ist! Das Problem dieser Inszenierung liegt wieder einmal darin, dass das Kunstwerk Oper mit der sog. Wirklichkeit verwechselt wird und Verdis Subtilitäten, in den Volksszenen und in den Killerarrangements, zu simpel ins Heute gebracht werden, was einzelne Erschütterungsmomente und beeindruckende Bilder nicht immer ausschließt: wenn der Schatten des sich nahenden Inquisitors (eindrücklich, aber nicht gespenstisch: Taras Konoshchenko) riesig auf die hohen Drehwände der holzgetäfelten Machtarchitektur (Mathis Neidhardt) fällt, ahnt man, dass auch der Dreckskerl ein Opfer der Macht ist. Und wenn Emily Newton als Elisabeth und Tadeusz Szlenkier als Carlos im höchstbewegenden, geradezu metaphysischen zweiten und im erschütternden letzten Liebesduett im weißen, kahlen Raum aufeinandertreffen, machen es diese beiden Sänger, dass Verdi am Ende doch gerettet ist – trotz abschließender Hinrichtung, trotz der Tragödie, dass ein Bühnenstück erst dann zuende ist, wenn wirklich alles, alles zerstört wurde. Gewöhnung an Brutalitäten und weiße Räume aber stumpfen auf Dauer ab. Warum hat sich das auf dem Theater noch nicht herumgesprochen?
Die Sänger also. Tadeusz Szlenkier beginnt so, wie er immer singt: schön, aber laut, doch im Lauf des Abends findet er – liegt es an nachlassender Stärke oder an einem stimmlichen Konzept? – zu zerbrechlichen Tönen, die die labile Seite des Carlos ziemlich gut abbilden. Emily Newtons Elisabeth ist eine femme fragile, die zumal im letzten Akt zu sensiblen Tönen des Verzichts findet: mit einer Vokalfärbung und -dynamik, die nicht aufs Grelle setzen muss, um zu wirken. Dagegen repräsentiert die Eboli der Martina Dike eine sexy gekleidete Powerfrau, die sich den überrumpelten Pagen (gut: Emily Bradley) in einem satirischen Beitrag zur Me-too-Debatte buchstäblich zur großen Brust nimmt und in ihrer Glanznummer „O don fatal“ das Publikum rockt; zu laut ist sie m.E. hier nicht: „nur“ brillant und vital, hinreißend energetisch und doch charakterlich feingezeichnet.
Sangmin Lee ist dem Prinzen zuletzt ein stimmlich guter Partner: als väterlicher, nicht als brüderlicher Posa, der den Infanten als politisches Spielzeug einsetzt und sich als gescheiterter Mann zwischen Idealismus und Realismus (dafür steht der schließlich unbenutzte Bombenkoffer ein) an den Widerständen des Systems die Finger verbrennt. Und dies auch, weil er sich dieselben schmutzig macht, wenn er sich an der Hinrichtung der Gesandten beteiligt: ein Un-Sinn, der durch keinerlei Information Camille du Locles und Verdis gedeckt wird. Natürlich entnehmen wir dem Textbuch auch nicht, dass die Königin am Ende den toten, mit einem zynischen „Liberté“-Schild drapierten Posa ansingt und nicht den Geist Karls V. Allein diese Deutung, die die Brücke zur Gegenwart schlägt, wird durch Text und Musik nicht widerlegt. Wie gesagt: der Bürgerkrieg, von dem Schiller und Verdi sprachen, und in dem sich die Königin engagiert, indem sie – es wirkt freilich auch wie eine Anbiederung an die pardon: platte Tagesaktualität – Pässe verteilt, ist kein Phänomen der Vergangenheit. Die Frage bleibt nur, ob jedes szenische Mittel die Botschaft heiligt. Nicht zuletzt Verdis Ringen um den Schluss der Oper beweist, dass sie nicht mit den alleinigen Mitteln einer vermeintlichen oder gar tatsächlichen Wirklichkeit in die Gegenwart transportiert werden kann.
Abgesehen davon, dass das akustische Problem des Nürnberger Hauses nach der nächsten Renovierung hoffentlich nicht mehr besteht: dass laute Sänger hier noch lauter wirken, was auch für’s Orchester gilt – doch nicht an diesem Abend. Die GMD Joana Mallwitz weiß, wo sie die Zügel loslassen und anziehen kann. Immer wieder ist es ein Vergnügen, dem Spiel der Stimmen zu lauschen: wenn ein Horn eine Melodie der Mitte anstimmt oder der Streicherchor des symphonischen Vorspiels des zweiten Akts der französischen, hier (durch den ersten Ur-Akt ergänzten, doch nicht nur um die Holzfällerszene gekürzten) Fassung von 1884 wunderschön ins Haus klingt. Was sonst fehlt, ist, man hat’s nicht anders erwartet, das Ballett, es fehlt auch der Maskentausch der Eboli und der Königin. Dafür bekommen wir die Ansicht der öffentlichen Entjungferung der Elisabeth a tergo durch die königliche Hand höchstselbst geschenkt, wir dürfen der Hinrichtung der flandrischen Gesandten beiwohnen, wir dürfen zuschauen, wie der Mönch sich die Brust aufritzt und die Gräfin d’Aremberg, ebenso öffentlich, denn wir sollen ja lernen: wir befinden uns in einem Terrorstaat, den Kopfschuss empfängt, bevor die Königin ihr Abschiedslied singt. Auch hier geht es zu Herzen – doch nicht aufgrund der Hinrichtung. Wir sehen, im Autodafé, nicht nur eine Vergnügungsgesellschaft aus Dragqueens, Clowns und Karnevalisten, sondern, man hatte es erwartet, eine Stimme von oben (wie immer wunderbar goldsopranig: Julia Grüter), die als Rauschgoldengel erscheint, also wie eine geschmacklose, Verdis Intentionen wieder einmal unnötig widersprechende Inszenierung, wie wir sie inzwischen zur Genüge kennen, als müsste Oper auf Teufel komm raus immer und ewig „realistisch“ sein, doch seltsam: das Bild bleibt zweideutig, bleibt, wenn man’s denn so sehen will und kann, ein Bild zwischen Show und Traum.
Soweit ist alles klar, Nur das, was den Don Carlos wirklich antreibt, bleibt ein wenig nebulös. Haben wir es beim traurig auf seinem Sessel sitzenden Mann mit einem Träumer zu tun? Erinnert er sich? Schreibt er gerade einen Roman? Halluziniert er sich in eine Handlung, die schon einmal war?
Egal, denn zumindest einige Szenen, die ihre Dignität vor allem, aber nicht nur, aus den sängerisch-schauspielerischen Leistungen ziehen, vermögen das Publikum denn doch, aller brutalen Eindeutigkeiten zum Trotz, davon zu überzeugen, dass Verdis „Don Carlos“ eines der bewegendsten Hauptwerke der Oper des 19. Jahrhunderts ist. Also starker Beifall – zurecht für die Sänger, das glänzende Orchester der Staatsphilharmonie Nürnberg und den wie immer guten Chor des Nürnberger Staatstheaters.
Frank Piontek, 14.10. 2019
Fotos: ©Ludwig Olah / Staatstheater Nürnberg