Aufführung am 25.10.2019
Zum ersten Mal in Paris: die verschollene Fassung der Generalprobe der Uraufführung, auf Italienisch und wunderbar dirigiert durch Fabio Luisi
Es war vor zwei Jahren „die meist beachtete Opernpremiere des Jahres“ – so das Forum des Online-Merkers, in dem die Spielpläne der Opern in Wien, Paris, Mailand, New York etc miteinander verglichen wurden. In Paris gab es „Don Carlos“ zum ersten Mal in der verschollenen Fassung der Generalprobe der Uraufführung, mit einem Aufgebot an Sänger-Stars: Jonas Kaufmann, Sonia Yoncheva etc und dem vielbeachteten Eboli-Debüt von Elina Garanca. Nun wird Produktion mit ebenso exzellenten Sänger-Kollegen und einem ganz hervorragenden Dirigenten wieder aufgenommen und kann man sich ohne „Starttrubel“ über das beugen, was sie wirklich besonders macht: diese nie gespielte Fassung.
„Don Carlo(s)“ ist nicht nur die längste Oper von Giuseppe Verdi (länger als „Traviata“ und „Trovatore“ zusammen), sondern auch seine meist ehrgeizige, mit der er Meyerbeer in den Schatten stellen wollte, und an der er 20 Jahre lang immer weiter gearbeitet hat, so dass es zeitlebens mindestens acht Fassungen dieser Oper gab, wovon die kürzeste (Mailand, 1884) heute am meisten gespielt wird (wie z.B. gerade an der Wiener Staatsoper). Wir brauchen nicht auf die hochinteressante Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte dieses Opus Magnum einzugehen, denn man kann sie mühelos in den köstlichen Briefen Verdis nachlesen, u.a. an die verschiedenen Direktoren der Pariser Oper. Nur über was kurz vor und kurz nach der Uraufführung am 11. März 1867 an der Académie Impériale de Musique im Rahmen der Feierlichkeiten der Weltausstellung in Paris passierte, hüllen sich alle in ein dezentes Schweigen. Denn die Angelegenheit war höchst peinlich für alle Beteiligten. Bei über 300 Proben – selbst Wagner hat dies nie erreicht – scheint es keine Durchläufe gegeben zu haben und stellte mal erst an der Generalprobe fest, dass die Oper zu lang sei, damit ein Teil des Publikums die letzte Vorstadtzüge noch erreichen könnte. Verdi musste also am Tag vor der Premiere eine halbe Stunde streichen und strich am Tag nach der Premiere wieder eine halbe Stunde. Diese fehlenden Szenen wurden erst 1974-1980 durch Prof. Dr Ursula Günther (und Andrew Porter & Angelo Foletto) in den Pariser Archiven gefunden und bei Ricordi veröffentlicht, was Claudio Abbado dazu bewegte sie in seiner Referenz-Aufnahme der Pariser Fassung (Deutsche Grammophon, 1985) als „Anhang“ hinzu zu fügen. 1,5 Stunden unbekannte „Don Carlos“-Musik!
So wie man es auf der Einspielung hören kann, sind nicht alle gestrichenen Passagen musikalische Höchstleistungen. Am Schönsten ist vielleicht noch das Klagelied des Königs vor der Leiche des erschossenen Posa „Oui je l’aimais… Qui me rendra ce mort“ („Si, io l’amai… Chi rende a me quest’uom“), das Verdi mit quasi dem gleichen Text in sein Requiem übernahm (die gestrichene Arie wurde das „Lacrymosa“). Aber dramaturgisch sind sie hochinteressant und geben sie der Oper eine tiefere Dimension. So fing der erste Akt nicht an mit der Arie des Carlos alleine im Wald „Fontainebleau! Forêt immense et solitaire“ (und Jägerchor hinter der Bühne), sondern mit einer zehnminütigen Chorszene, in der Elisabeth mit ihrem Pagen auf das unter dem Krieg leidende Volk trifft, das singt: „L’hiver est long! La vie est dure! Le Pain est cher!“ („Der Winter ist lang! Das Leben ist hart! Das Brot ist teuer!“). Das klingt nicht nur ungefähr nach „Boris Godunow“, denn Verdi beschäftigt sie sich gerade mit dem Stoff (noch vor Mussorgski!). Elisabeth schenkt daraufhin einer Witwe, die beide Söhne im Krieg verloren hat, eine Goldkette, wofür diese sich mit dem ganzen „Holzfäller-Chor“ bedankt : „Edle Frau, gebe Gott Euch einen jugendlichen Gatten, eine Krone und dazu die Liebe eines glücklichen Volkes!“. Diese Szene gibt dem Treffen mit Don Carlos, ihrer ersten Liebesszene mit dem Medaillon (von dem sich Elisabeth nie mehr trennt) und dem „Entsagen“ ein ganz anderes Format. Die Figur der Elisabeth wird in vielen Szenen enorm aufgewertet – Sie singt u.a. in dem Autodafé mit den Flämischen Gesandten – sowie auch Eboli und Posa. Elisabeth gibt z.B. Eboli ihren Mantel und Mantilla vor der nächtlichen Gartenszene, um ihre „Rolle“ zu spielen. Kein Wunder also, dass Don Carlos der falschen Frau seine Liebe erklärt. Und so ist die Schleier-Arie der Eboli – heutzutage nur noch ein „Spanisches Intermezzo“ – in die Handlung eingebunden, als Vorahnung (oder Wunsch), was wenige Minuten später mit Don Carlos passiert und mit dem König offensichtlich schon passiert ist.
Alles hochinteressant, aber es lohnt sich nicht, dies hier alles nach zu erzählen, denn man kann es im brillanten Essay von Ursula Günther bei Ricordi und im Booklet der Abbado-CD nachlesen. Das aufwändig gestylte Programmheft der Pariser Oper kann man sich sparen, denn dort werden die oben genannten Informationen nicht einmal erwähnt, sowie im abgedruckten Libretto die „Holzfäller-Szene“ und viele andere interessanten Szenen einfach fehlen und in den 10 Seiten Werbung über alles, was man zur Zeit in der Opéra de Paris sehen kann, nicht darauf hingewiesen wird, dass am Tag vor der jetzigen Premiere im Palais Garnier eine Ausstellung eröffnet wurde über die Gattung „grand-opéra“, zu der „Don Carlos“ natürlich gehört (bis zum 2. Februar 2020). Da hat sich seit Verdis Zeiten, der sich mächtig über die waltende Inkompetenz an der „Grande Boutique“ aufregen konnte, offensichtlich nicht so viel geändert: „Ein großes Warenhaus oder Trödlerladen“.
Szenisch wurde auch recht schlampig mit den oben genannten wiedergefundenen Szenen umgegangen. Es ist heute leider üblich, dass man akribisch musikalisch arbeitet und dafür die besten Sänger und Dirigenten einlädt, und dazu einen Regisseur verpflichtet, der sich überhaupt nicht in den historischen Stoff vertieft, weil man von ihm verlangt, dass er das Werk „aktualisiert“. Krzystof Warlikowski ist kein unbegabter Regisseur – wir haben diesen Frühling sehr positiv über seine „Lady Macbeth von Mzensk“ berichtet (siehe Merker 5/2019) – aber mit dieser „grand-opéra“ konnte er offensichtlich wenig anfangen. Seine Ausstatterin Malgorzata Szczesniak schuf ein großes Einheitsbühnenbild, worin die großen Chöre genug Platz hatten, aber die intimen Szenen – trotz manchmal eingeschobener Elemente – verloren wirkten. Und in diesen leeren Räumen konnte Warlikowski kaum psychologisch mit seinen Sängern arbeiten, was ihm diesen Frühling noch so wunderbar mit Ausrinè Stundytè als rollenprägende Katerina Ismailowa gelungen ist. Der Regisseur saß während der Premiere in der Reihe vor mir, doch erschien (trotz mehrerer Aufforderungen) nicht beim Schlussapplaus – wahrscheinlich war er selbst nicht mit dem Resultat zufrieden und wollte nicht mehr ausgebuht werden (wie vor zwei Jahren).
Die musikalische Umsetzung war absolut hervorragend. Das liegt vor allem an dem wunderbaren Dirigat von Fabio Luisi. Er dirigierte Verdi wie man ihn selten hört: einerseits eine ganz klar durchdachte Architektur, wie die einer Kathedrale, andererseits immer wieder anderes Licht und Farben, das auf dieses große Gewölbe fällt. Dank sei ihm, wurde der lange Abend (4,5 Stunden mit zwei Pausen) nie langweilig. Er hatte einerseits das Orchester der Oper perfekt in der Hand (kein einziger Verrutschter mit der vielen Bühnenmusik), auch den riesigen Chor der Oper, perfekt durch José Luis Basso vorbereitet, der den Abend mit einen wunderbaren piano im Holzfäller-Chor eröffnete und im Autodafé forte sang, ohne schrill zu werden und die Solisten zu übertönen, die immer im Mittelpunkt blieben. Den Sängern gab er ganz klare Tempo-Angaben, ließ sie einerseits nicht aus der Hand, aber ließ sie dann wieder an anderen Momenten aussingen, sogar a cappella ohne Chor und Orchester, was manchmal berührend schön war. Schade, dass man ihn hier so selten hört (es ist sein 7. Dirigat an der Pariser Oper in 22 Jahren) und auch er nicht durchsetzen konnte, dass man den vollständigen „Don Carlos“ nun endlich mal spielt (einige Szenen und die Ballette wurden dann docgh gestrichen). Gesungen wurde auf Italienisch. Eigentlich eine Inkonsequenz, die mich jedoch nicht gestört hat. Denn „Don Carlo“ singt sich eben besser als „Don Carlos“, so wie es quasi alle Sänger sagen, diese Oper auf Französisch und auf Italienisch gesungen haben.
Roberto Alagna ist ein heroischer Don Carlo mit einer perfekten Technik, so wie man es auf den Videos sehen und hören kann, die jetzt bei jeder Premiere auf die Website der Oper gesetzt werden. Doch er war offensichtlich erkältet, auch wenn es deswegen keine Ansage gab: die Töne saßen, klangen jedoch etwas forciert und in seiner ersten Arie und dem Duett mit Elisabeth fehlte das Piano. In der ersten Pause warf er das Handtuch. Michael Fabiano ist als Zweitbesetzung vorgesehen, doch an diesem Abend sang er noch – offenbar sehr gut – in der „Manon“ der Met, die live im Kino ausgestrahlt wurde (siehe die Rezension im Online-Merker). So sprang Sergio Escobar ad hoc ein. Er tat dies sehr professionell, offenbar nicht ganz unvorbereitet (denn man sah ihn auch in der letzten Videosequenz), aber mit den verständlichen Schwierigkeiten in der höllisch schwierigen Arie des zweiten Aktes, womit er an der riesigen Opéra Bastille debütierte. Im Laufe des Abends fand er jedoch wieder das wunderbar warme Timbre seiner schönen Stimme. Aleksandra Kurzak brachte ganz unerwartet „Jugend“ in die Rolle der Elisabeth. Denn auch wenn Schiller und Verdi sich nur bedingt an die historischen Figuren gehalten haben, war Isabelle de Valois – in Spanien „Isabel de la Paz“ – nur 14 Jahre als sie den 32-jährigen und schon zweimal verwitweten Philipp II von Spanien heiratete (übrigens eine glückliche Ehe!). Bei Verdi ist es ein alter Mann, den René Pape überzeugend darstellte : wunderbar seine Mezzavoce in „Ella giammai m’amo“ bevor er seine mächtigen Bass in den Saal schleuderte. Ihm absolut ebenbürtig als Stimme war Sava Vemić in der wichtigen Rolle des Frate (Geist von Karl dem V.), den wir zum ersten Mal hier in einer größeren Rolle hörten und vor dem sogar der Großinquisitor von Vitalij Kowaljow verblasste. Étienne Dupuis war ein wunderbarer Rodrigo (Posa), obwohl er es mit dem erst erkrankten und dann einspringenden Don Carlo in seinen Duetten natürlich nicht einfach hätte und Ève-Maud Hubeaux ein ebenfalls in dieser Fassung stark aufgewerteter Page Tebaldo. Die Sensation des Abends war Anita Rachvelishvili als Eboli. Als sie vor zehn Jahren, noch an der Akademie der Scala, mit kaum 21 Jahren dort die sehr beachtete Stagione-Eröffnungs-„Carmen“ sang und gleich eine Weltkarriere startete, befürchtete ich, dass schon wieder ein junges Talent verheizt wird. Mit Nichten.
Jedes Mal wenn sie in Paris wieder auftritt, ist ihre Stimme weiter gereift und zeigt nicht das mindeste Anzeichen von Müdigkeit. Im Gegenteil, seit Dolora Zajick vor 20 Jahren, hat keine Eboli mit einer solchen Wucht den großen Saal der Bastille bis zum letzten Stuhl in Erregung gesetzt. Phänomenal ihr „O don fatale“ und zugleich in jeder Note absolut musikalisch – auch wegen dem Dirigenten – verinnerlicht und erlebt (wovon das Video nur einen blassen Schimmer gibt). Das Premieren-Publikum tobte und bei dem Schlussapplaus gab es (nur) für sie quasi eine Standing Ovation.
Ein musikalisch wunderbarer Abend, an dem viel Bekanntes in einem breiteren Kontext plötzlich neu klang. Nur schade, dass wir nicht einmal wirklich das ganze Werk ohne Schnitte erleben konnten, mit u. a. dem berühmten Perlen-Ballett (das Cornelius Meister nun zeitgleich im „Don Carlos“ in Stuttgart dirigiert). Und hoffentlich setzt sich die fünf-Akten Fassung nun endlich durch, auf Italienisch. Verdi war enttäuscht von der Uraufführung in Paris, die er als „senza sangue e agghiaciata“ empfand („frostig und ohne Saft und Kraft). Worauf der Theaterdirektor Nestor Roqueplan ihm riet: „Bleiben Sie bei den italienischen Makkaroni und lassen Sie das französische Sauerkraut“ – was er auch nie mehr essen wollte!
Waldemar Kamer, 28.10.2019
Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online
Fotos C: Vincent Pontet