Premiere am 25. Januar 2019
Zum Abschluss des problematischen Berlioz-Zyklus eine ausgebuhte Premiere …
In Paris gibt es viel zu feiern: 350 Jahre Pariser Oper, 30 Jahre Opéra Bastille und 150 Jahre Berlioz (1869 in Paris gestorben). Als „Höhepunkt“ dieser Feierlichkeiten und als Abschluss des in 2015 begonnenen Berlioz-Zyklus der Pariser Oper gab es nun als sehr beachtete Premiere „Les Troyens“. Da das „kolossale, gewaltige, unermessliche und beispiellose Werk“ (so Direktor Dominique Meyer im „Prolog“ der Wiener Staatsoper) im Oktober/November in Wien gespielt und in „Merker“ sehr ausführlich rezensiert wurde, brauchen wir nicht auf die Handlung und die komplexe Entstehungs- und Aufführungs-Geschichte einzugehen, sondern können gleich berichten, wie anders man in Paris mit diesem Werk umgeht als in Wien.
Im Gegensatz zu Wien, werden „Les Troyens“ nicht häufig, aber doch regelmäßig in Paris und Frankreich gespielt, denn sie gelten als die größte, meist verrückte oder genialste Französische Oper des 19. Jahrhunderts. Deswegen war „Les Troyens“ die erste Oper die man an der Opéra Bastille gespielt hat (erst im März 1990, da das neue Haus wegen großer technischer Probleme im offiziellen Eröffnungsjahr gar nicht bespielbar war) und 2006 wurde die Produktion aus Salzburg (2000) wiederaufgenommen. Zwischenzeitlich gab es noch 2003 im Châtelet eine musikalisch epochale Produktion, die jedoch szenisch auch nicht sehr befriedigend war. Dreimal hatte man Regisseure berufen, die ursprünglich Bühnenbildner waren (Pier Luigi Pizzi, Herbert-Wernicke und Yannis Kokkos), die große und bei Pizzi wirklich beeindruckende „tableaux“ (Bilder) entwarfen, in denen die Sänger ewig an der Rampe standen, wobei wir uns teilweise richtig gelangweilt haben. So setzte der jetzige Intendant Stéphane Lissner alle Karten auf eine neuartige Regie, wie er es schon für „La damnation de Faust“ (2015) und „Benvenuto Cellini” (April 2018) getan hatte – „Béatrice et Bénédict“ wurde nur konzertant gespielt. In einem Promotionsvideo (das man auch auf dem Merker Online sehen kann) erklärt Lissner, dass er mit jungen Regisseuren junge Leute in die Oper locken will. Der russische Regisseur erzählt sehr ich-bezogen, dass er „schwierige Herausforderungen“ liebt. Kaum ein Wort zu Berlioz und kein Statement des Dirigenten/Musikdirektors – das sagt im Vorfeld eigentlich schon alles aus.
Regisseur Dmitri Tcherniakov gilt in Frankreich als ein „enfant terrible“, das immer für viel Medienwirbel sorgt und deshalb auch häufig eingeladen wird. Manchmal sind wir schwer empört, wie z.B. über seine Verhunzung von Rimski-Korsakows „Schneeflöckchen“ (durch ihn eigenmächtig in „Snegourotchka“ umgetauft, siehe Merker 5/2017), doch in diesem Fall ist sein mit Tatiana Vereschagina erarbeitetes Regie-Konzept wirklich interessant. Statt eines antiken Dramas mit Halbgöttern, sehen wir eine moderne Herrscherfamilie, in der es hinter der schönen Fassade – sie stellt sich vor Anfang des Abends für einen offiziellen Fototermin auf – ordentlich knistert: König Priam (er sieht aus wie ein lateinamerikanischer Diktator) holt für das Foto seine Lieblinge in die Mitte und verstößt die in Ungnade gefallenen an den Rand. Mit Hilfe von Video-Projektionen, die mit Untertiteln verdeutlicht werden, wird aus dieser Familienkonstellation die Oper erzählt. Und das hilft auch über einige szenische Durststrecken der „Troyens à Carthage“ (die ersten beiden Akte) hinweg. Beim ersten Ballett, „Le combat de ceste, le pas des lutteurs“ wird nicht getanzt, sondern stehen alle Beteiligten still vor Hectors Grab und sehen wir auf den Videos, was die einzelnen Personen denken. Enée hasst seinem Schwiegervater, weil er Hectors kleinen Sohn Astyanax als Thronfolger einsetzt und nicht Enées Sohn Ascagne – was ihn auf den Gedanken bringt, die Griechen in die Stadt zu schleusen um Priam zu stürzen. Dieses bringt Polyxène in einen tragischen Konflikt zwischen Vater und Mann und sie ringt mit Selbstmordgedanken. Cassandra ist die „ungeliebte“ jüngste Tochter, die als Mädchen durch ihren übermächtigen Vater anscheinend sexuell missbraucht wurde und seitdem als verrückt gilt, damit ihr niemand diese Geschichte glaubt. Dieser „Subtext“ gab den vielen Kampfszenen und Freudenchören eine ganz ungewöhnliche dramaturgische Dichte (es ist nicht mehr die List der Griechen mit dem Pferd, sondern der Verrat von Aeneas der Troja zu Fall bringt) und gleichzeitig wurde die äußere Handlung auch mal ohne Pferd kraftvoll inszeniert, mit eindrucksvollen Kampfszenen von Stuntman Ran Arthur Braun, in denen ein brennender Mann über die Bühne läuft (der Geist Hectors?), in einem spektakulären Bühnenbild: ein zerbombtes Beirut. Alles interessant interpretiert und gut inszeniert.
Doch bei „Les Troyens à Carthage“ (die letzten drei Akte) führte das Regiekonzept in eine Sackgasse. Aus Karthago wurde ein „Centre de psycho-traumatologie pour victimes de guerre“, ein betont hässliches Krankenhaus für Kriegsgeschädigte, in dem wirkliche Kriegsopfer (junge Männer ohne Arme und Beine, die als Statisten engagiert waren) herum humpelten. Dido ist nun eine Patientin, die ihrem im Krieg gefallenen Ehemann Sychée nachtrauert, und meint ihn in dem neuen Patienten Enée wieder zu finden, der nach der Flucht aus Troja durch seinen Sohn Ascagne eingeliefert wird. In großen „Gruppentherapien“ (fast alle Sänger und Statisten sind beinahe die ganze Zeit auf der Bühne), darf sie nun mit Pappkrone und Karnevalskostüm die Königin spielen, ohne den traumatisierten Enée jedoch zu erreichen, der ja immer nur „Stimmen hört“. Wie sollen Darsteller und Publikum an eine Geschichte glauben, wenn sie nicht „verkörpert“ wird, sondern nur mit viel ironischer Distanz auf die Bühne gestellt wird? Und wie soll man einer Handlung folgen können, wenn man sich vor lauter Trubel auf der Bühne gar nicht mehr auf die Sänger konzentrieren kann? Dido und Enée sehen sich in ihrer großen Liebeszene „Nuit d’extase“ nicht einmal an und Anna und Narbal spielen in ihrem Duo Ping-Pong. Der Ansatz war vielleicht interessant, aber die Inszenierung meist nur störend und – bis auf zwei Arien – total unmusikalisch und stümperhaft. Auch die besten Sänger/Darsteller hätten diese Regie nicht retten können.
So war der musikalische Aspekt des Abends nur streckenweise etwas besser als der szenische. Brandon Jovanovitch, der schon in Wien die Rolle des Enée gesungen hat, sprang nun in Paris für Bryan Hymel ein, der zum zweiten Mal in dieser Spielzeit hier eine große Rolle absagte. Ein schöner Heldentenor, der gut durch die Rolle kam, dabei aber für unsere Ohren erhebliche Berlioz-Stilfehler machte – Hat ihm niemand erklärt, dass diese Rolle für eine „voix mixte“ geschrieben wurde? Stépahnie d’Oustrac debütierte als Cassandre. Sie ist eine wunderbare Sängerin, die eine beachtliche Karriere macht: 2003 sang sie noch Ascagne, letzten Sommer war sie Carmen in Aix-en-Provence (auch mit Tcherniakov). Doch für Cassandre braucht man eine geborene „tragédienne“ – Anna Caterina Antonacci galt viele Jahre in Paris als die unangefochtene „Rollenträgerin“ der Cassandre (schade, dass sie in Wien indisponiert war!). D’Oustracs Stimme ist einfach zu klein für die große Opera Bastille. Vor 29 Jahren kam Grace Bumbry mühelos über das damals viel lauter spielende Orchester und hat in einer von uns besuchten Vorstellung in letzter Minute auch noch souverän ihre indisponierte Kollegin ersetzt – unseres Wissens das erste Mal, dass eine Sängerin in einer Vorstellung Cassandre und Didon gesungen hat.
Was ist aus den großen Stimmen von damals geworden? Elina Garanca hätte wahrscheinlich eine solche Stimme bei ihrem angekündigten Didon-Debüt gehabt, doch sie zog sich nach Anfang der Proben zurück (laut Gerüchteküche, weil sie schnell begriffen hatte, was aus dieser Produktion werden würde und dann auch nicht im Schatten von Joyce DiDonato stehen wollte, die zur Zeit als beste Didon gilt). Ekaterina Semenchuk, die die Didon schon vor zwei Jahren in Sankt Petersburg gesungen hat, war ein dürftiger Ersatz. Ihr fehlte völlig die „noblesse“ der verlassenen Königin. Das lag aber auch an der Regie: sie sah aus wie eine pummelige Putzfrau. Der Rest der Besetzung war durchwachsen: Paata Burchuladze hatte als Priam überhaupt keine Stimme mehr, während Stépahne Degout einen klangschönen Chorèbe gab (aber nicht so eindrucksvoll wie auf der Einspielung in Straßburg 2017 mit John Nelson). Die von uns öfters gelobte Michèle Loisier ging leider auch als Ascagne im allgemeinen Trubel unter. Cyrille Dubois durfte zum Glück als Iopas seine Romanze „O blonde Cérès“ beinahe alleine auf der Bühne singen (dort sehr schön begleitet durch den 1. Harfenisten der Oper David Lootvoet). Didons Schwester Anna wurde ganz wunderbar gesungen von Aude Extrémo (im Oktober eine fantastische Périchole in Bordeaux, siehe Merker 11/2018), mit dem nun hier an der Oper debütierenden Christian Van Horn als ebenbürtigen Narbal – es ist eine wirkliche Zumutung, dass man solche Sänger in ihrem wunderschönen Duo hinten auf der Bühne Ping-Pong spielen lässt! Und was soll man zum durch José Luis Basso offensichtlich ungenügend einstudierten Chor der Oper sagen, wenn er seinen wilden Auftritt und das große Finale verpatzt? Der Chor der Amsterdamer Oper bleibt auch noch in einer wilden Tcherniakov-Inszenierung lupenrein…
Philippe Jordan war leider bei dieser schwierigen Premiere als Dirigent nicht in Höchstform. Sein Bestreben war nach dem verpatzten Chor-Einsatz – bei der Generalprobe scheint es auch noch viele verpatzte Orchester-Einsätze gegeben zu haben – seine drei Chöre und Orchester coûte que coûte zusammenzuhalten. So hatte er das gute Orchester der Oper immer gut im Griff, aber es fehlten dann die vielen Temposchwankungen, die dieser Partitur erst wirkliches Relief geben. Doch in den wenigen Momenten, in denen die wilde Bühne der Musik mal etwas Raum gab, konnte man hören, was für einen romantischen, verfeinerten Berlioz er ursprünglich einstudiert hatte: er begleitete den großen Chor „Dieu protecteur de notre cité éternelle“ mit vielen Nuancen, die Bläserensembles (oft ein Problem in „Les Troyens“) waren nie zu laut, bei dem Septett und dem Oktett konnte man jeden Sänger hören und die großen Arien des 5. Akts hat er hingebungsvoll und äußerst sängerfreundlich begleitet. Dafür bekamen er, das Orchester, der Chor und alle Sänger viel Applaus – bis ein zehnminütiger Buh-Orkan folgte als das Regieteam auf die Bühne kam.
Die große Ablehnung des Publikums und einstimmig auch der Presse hat nicht nur mit der provokativen und teilweise völlig misslungenen Regie zu tun, sondern ganz allgemein, wie man an der Opéra de Paris mit Berlioz umgeht. An der Staatsoper wurden „Les Troyens“ bis auf eine Ballett-Reprise vollständig gespielt und scheint Dominique Meyer David McViar gebeten zu haben einige Striche aus San Francisco wieder zu öffnen. In Paris wurden nicht nur Ballett-, Chor- und Arien-Reprisen gekürzt, sondern ganze Szenen der „Troyens à Carthage“, alle Ballette des 4. und 5. Akt, viele Rezitative – insgesamt 40 Minuten! Und das teilweise auf eine so brutale Weise, dass schon während der Vorstellung ein älterer Herr vom Balkon seufzte: „encore des coupures!“ (schon wieder Striche). Würde man es in deutschen Landen akzeptieren, dass ein russischer Regisseur 40 Minuten in der „Götterdämmerung“ streicht, weil diese nicht in sein Kriegstrauma-Spital-Regiekonzept passen? Intendant Stéphane Lissner hat „keine besondere Affinität zu Berlioz“, wie er es uns schon vor 30 Jahren in einem Interview gesagt hat. Doch was kann der Sinn eines Berlioz-Zyklus an der Pariser Oper sein, wenn man jedes Werk an einen provokativen Regisseur gibt, bei dem die Musik völlig untergeht? Nach jeder Berlioz-Premiere gab es an der Opéra Bastille einen Buh-Orkan – an der Staatsoper im Oktober 20-minütigen Applaus. Denn „Les Troyens“ können ganz wunderbar sein, wenn man sie wirklich so spielt wie sie komponiert wurden: eigentlich eine Tragédie Lyrique wie Gluck und Rameau und keine Grand Opéra wie Wagner oder Verdi (Philippe Jordan und viele Andere auch irren sich meines Erachtens wenn sie Enée mit Tristan vergleichen). 2003 schloss John Eliot Gardiner einen inzwischen legendären Berlioz-Zyklus am Théâtre du Châtelet ab, zum ersten Mal auf historischen Instrumenten. Nach einem sehr gründlichen Studium des „Klangbilds das Berlioz vorgeschwebt hat“ hat Gardiner sogar für „Les Troyens“ eine ganze Serie von Blasinstrumenten nachbauen lassen. Das Resultat war verblüffend: so haben wir „Les Troyens“ nur dieses eine Mal gehört! Eine Schande, dass diese legendäre Produktion damals nicht aufgezeichnet wurde, doch die einstimmig hymnischen Rezensionen kann man heute noch im Internet nachlesen. Das müsste doch zum Nachdenken anregen. Die Opern von Berlioz wurden zu seinen Lebzeiten nicht an der Pariser Oper gespielt und jetzt nur noch in verstümmelter Form (in allen Produktionen der „Troyens“ an der Opéra Bastille wurde stark gekürzt). Hoffentlich wird das eines Tages anders werden – denn das hat Berlioz nach 150 schlechten Jahren an der Pariser Oper irgendwann doch mal verdient!
Waldemar Kamer 30.1.2019
Fotos (c) Vincent Pontet