Aufführung am 2.12.2017
Gute Arbeit bleibt faszinierend, auch wenn der Regisseur inzwischen verstorben ist. Intendant Stéphane Lissner, der im Programmheft seine langjährige Zusammenarbeit mit Patrice Chéreau beschreibt als „le plus beau compagnonnage de ma carrière“ (die schönste Zusammenarbeit meiner Laufbahn/ Gesellengesellenbruderschaft), hat die epochale Inszenierung von Chéreau nun zum letzten Mal wiederaufgenommen. Sie entstand 2007 in den damals von Lissner (zusammen mit Luc Bondy) geleiteten Wiener Festwochen und wurde seitdem im Holland Festival in Amsterdam, den Festspielen von Aix-en-Provence, der Metropolitan Opera in New York und der Mailander Scala wiederaufgenommen. Chéreau hat selbst noch vor seinem Tode 2013 die Besetzung dieser letzten Wiederaufnahme mitbestimmt, die ausschließlich aus Sängern besteht, mit denen er in genau diesen Rollen gearbeitet hat.
Da diese Produktion schon öfters im Neuen Merker besprochen wurde, brauchen wir jetzt nicht mehr auf jede Einzelheit einzugehen. „Aus einem Totenhaus“ gehört zu den eher selten gespielten Werken Janaceks, weil es – ähnlich wie Bergs „Lulu“ – unvollendet blieb und nach seinem Tode durch seine Mitarbeiter vervollständigt wurde. Es ist keine „Oper“ im herkömmlichen Sinne, weil die deutlich fixierten Hauptgestalten als Träger der Handlung fehlen. Als Vorlage dienten Dostojewskijs „Aufzeichnungen aus einem toten Hause“, in dem der Schriftsteller protokollartig seine eigenen Erfahrungen aus einem Gefangenlager in Sibirien verarbeitet hat und gnadenlos den eintönigen Lageralltag, das zwanghafte Miteinander der Insassen und u.a. das grausame Quälen eines gefangenen, verwundeten Adlers beschrieben hat. Doch für Janacek war das „Literatur! In jeder Kreatur ein Funken Gottes“ (schrieb er 1928 auf seine ersten Kompositionsskizzen).
In den wenigen Inszenierungen in Paris und Brüssel, die ich von diesem Werk gesehen habe, versuchten die Regisseure diese Schwierigkeiten zu überbrücken mit einem grandiosen Bühnenbild – „Sibirien“ – in dem die Gefangenen nur noch kleine Punkte in einer weitläufigen Landschaft waren. Chéreau bat dagegen seinen langjährigen Bühnenbildner Richard Peduzzi um einen eiskalten Gefangenenhof, in dem wir jede noch so kleine Regung/Bewegung genau verfolgen können. Und er fügte den 19 Sängern (und einer Sängerin) noch 16 Schauspieler hinzu, mit denen er Wochenlang als fantastischer Schauspielregisseur geprobt hat – mit dem Ziel dass man Sänger und Schauspieler nicht mehr voneinander unterscheiden könne. Dieses Konzept wurde entscheidend mitgetragen durch Chéreaus künstlerischen Mitarbeiter und Lebensgefährten Thierry Thieû Niang, der als Tänzer und Choreograph viele Jahre mit geistig und körperlich Behinderten gearbeitet hat. Ich habe Niangs eindrucksvolle Anfänge vor 25 Jahren verfolgt, aber damals leider nicht rezensieren können, da sie so weit vom gängigen Theater- und Opernbetrieb lagen. Zur Zeit kann man auf ARTE-Stream einen diesen Herbst herausgekommenen Film sehen „Une jeune fille de 90 ans“, in dem man sieht, wie Thierry Thieû Niang in einem Altersheim mit Alzheimerpatienten arbeitet. Da begreift man sofort, wie wichtig sein Beitrag in dieser einzigartigen Regiearbeit war. (Da Niang ein in Theaterkreisen unüblich stiller und bescheidener Mensch ist, muss man es an dieser Stelle ausnahmsweise mal laut und deutlich sagen.)
Chéreaus Assistenten Peter Mc Clintock und Vincent Huguet haben diese Wiederaufnahme mit äußerster Akribie erarbeitet und die Sänger spielten mit einer Genauigkeit, bei der sich einige an diesem gleichen Wochenende durch mich rezensierten Regisseure und Bühnendarsteller eine Menge abgucken könnten. Leider können wir nicht alle 36 Darsteller namentlich nennen, aber sie verdienen alle ein uneingeschränktes, großes Lob! Besonders aufgefallen sind uns Eric Stoklossa (der junge Tartar Aljeja), Ales Jenis (ein Sträfling in den Rollen Don Juans und des Brahminen) und Susannah Harberfeld (Elvira, in dieser Fassung „eine Hure“), die schon 2007 in Wien dabei waren und nun an der Pariser Oper debütierten. Jiri Sulzenko hat als Lagerkommandant nichts von seiner Grausamkeit eingebüsst, die Willard White (der neue Häftling Alexander Petrowitsch Goriantschikow) mit einer schon fast aristokratischen Ruhe ertrug. Der größte Applaus ging verständlicherweise an Peter Mattei als Chikov. Unglaublich wie sehr seine Stimme seit seinem Don Giovanni 1998 in Aix gereift ist: er singt die einzige längere Arie des Abends mit einem fast weltentrückten Bass.
Bei der Erstaufführung in Wien dirigierte der inzwischen verstorbene Pierre Boulez. Chéreau hatte anscheinend Affinitäten zu Esa-Pekka Salonen, der nun mit Können das Orchestre de l’Opéra de Paris
leitet. Aber sein Dirigat machte weniger Eindruck (auf uns). Lag es an der großen Opéra Bastille, an unserer Erinnerung (die bekanntlich vieles verklärt) oder ganz einfach daran, dass Boulez und Chéreau eben „Jahrhundertkünstler“ waren? So wie sich Chéreau vor 24 Jahren mit einer seltenen künstlerischen Integrität querstellte, als man in Paris seinen Bayreuther „Ring“ wiederaufnehmen wollte, hat er auch verboten, dass seine Inszenierungen nach seinem Tode weitergespielt werden (außer die schon durch ihn bewilligten Wiederaufnahmen). Zum Glück bleiben viele Dokumente und einige gute Fernsehaufzeichnungen erhalten, die man nun in einer Ausstellung im Palais Garnier sehen kann: „Patrice Chéreau, mettre en scène l’opéra“ (bis zum 3. März 2018). So leben er und seine Arbeit weiter!
Waldemar Kamer 6.12.2017
Besonderer Dank an unseren Kooperationspartner MERKER-online Wien
Bilder (c) Elisa Haberer / Opera de Paris
P.S.
Pierre Boulez und Patrice Chéreau während den Proben 2007 in Wien
(eines der vielen Fotos in der jetzigen Ausstellung im Palais Garnier) Foto:Ros Ribas