Eine Ausstellung bei Steingraeber und ein Buch
War Engelbert Humperdinck ein one-work-composer? Man möchte es, mit Blick auf die ingeniösen, immerhin selten inszenierten Königskinder und etlicher Einspielungen anderer Werke, nicht behaupten, und doch ist der Mann aus Siegburg für den gewöhnlichen Opern- (und Musik-)Freund nicht mehr geblieben als der Schöpfer von Hänsel und Gretel. Wenn eine Ausstellung mit dem dem beliebtesten Werk entlehnten Titel Hokuspokus Hexenschuss den Untertitel Engelbert Humperdinck nach 100 Jahren trägt, wird das Problem und die Frage bereits angedeutet: Was blieb? Denn Humperdinck schrieb ja nicht allein eine weltbekannte und eine rare Oper, sondern weitere Bühnenwerke und nichtdramatische Stücke, die zu seiner Zeit zum Teil populär waren.
In Siegburg wurde die Ausstellung aus der Taufe gehoben, über Bonn kam sie nach Bayreuth, um zum Schloss Homburg, schließlich nach Xanten zu wandern: alles ausgewiesene Humperdinck-Orte. „Humperdinck ist so `ne Bayreuther Erscheinung“, sagt Udo Schmidt-Steingraeber, Chef jener Bayreuther Klavierbaufirma, mit der Humperdincks Name nicht allein deshalb verbunden ist, weil hier jenes Gralsglockenklavier gebaut wurde, das in jener Premierenserie zu hören war, für die der junge Musikstudent gearbeitet hatte: für den Parsifal. Humperdinck – er hat das selbst in seinen Erinnerungen an Wagner und die Bayreuther Zeit geschildert – begegnete Wagner zunächst in Neapel, schrieb dann die Parsifal-Partitur ab (seine Abschrift diente als Druckvorlage) und assistierte in Bayreuth, indem er die Höhenchöre dirigierte und die Verwandlungsmusik des 1. Akts um einige Takte erweiterte. Die Beziehung zu Steingraeber aber ist direkter: Humperdinck bestellte sich 1897 einen großen Flügel, der vor 20 Jahren in derselben Firma restauriert wurde, in der er gebaut wurde. Wer ihn hören will, kann zu einer schönen CD mit einigen kammermusikalischen und pianistischen Jugendwerken des Komponisten greifen, die 2009 in der Musikwerkstatt Siegburg produziert wurde; der Kurator der Ausstellung, Christian Ubber, zeigt sich hier nicht allein als eminenter Humperdinck-Kenner und -Herausgeber, auch als guter Humperdinck-Spieler.
Präsentiert die Bayreuther Ausstellung einige Hänger und einige Originale und Kopien (Wagners einziger überlieferter Brief an den jungen Gesellen) aus dem Besitz der Siegfried-Wagner-Gesellschaft (denn Humperdinck unterrichtete den Wagner-Sohn) und des Klavierhauses, so bietet sie ein Abstract zum Buch, das die erste reich bebilderte – nein, keine Humperdinck-Biographie, aber doch eine Lesesammlung zu ausgewählten Themen wurde. Das Musiktheater spielt hier nicht die unwichtigste Rolle, denn Humperdinck schrieb neben den beiden bekannten Opern auch ein Dornröschen (das in der nächsten Spielzeit im Gärtnerplatztheater seine konzertante Wiederauferstehung erleben wird), eine Marketenderin, eine Heirat wider Willen und ein Gaudeamus, auch einige höchst hörenswerte Schauspielmusiken zu Max Reinhardts Berliner Shakespeare-Inszenierungen. Ist es nicht ungerecht, dass in seinem Geburtshaus heute das Stadtmuseum eingerichtet ist, das sich weniger der Zukunft als der Vergangenheit widmet? Im Blick auf die Auswahl der Stoffe und der Tonsprache der meisten Werke scheint es folgerichtig zu sein, auch wenn sich Humperdinck, worauf die Ausstellung nachdrücklich hinweist, spätestens dann von Wagner emanzipierte, als er die Melodramen der Erstfassung der Königskinder konzipierte. Es wäre gewiss auch nicht in Wagners Sinne gewesen, Verdis Spätwerke Othello und Falstaff so zu würdigen, wie Humperdinck es tat. Dass er hingegen der Traviata lediglich eine „triviale Machart“ zubilligte und die Musik von Puccinis Manon Lescaut schwach fand, dass er dem Verismo und Schönberg nichts abgewinnen konnte, mag im Zeithorizont eines Traditionalisten verständlich sein – dass er jedoch die Bohème folgendermaßen beurteilte: „Wenig Erfindung; noch weniger Empfindung“, erstaunt denn doch. Humperdinck blieb im Grunde ein typischer deutscher Romantiker, der die italienische Opernkultur nur partiell zu begreifen vermochten, darin dem verbohrten Eduard Hanslick nicht ganz unähnlich. Dafür gebührt ihm das Verdienst – im ausgezeichneten Buch können wir‘s bei P.P. Pachl nachlesen -, den jungen Siegfried Wagner unterrichtet und gefördert zu haben, wobei die gegenseitige Anerkennung beider Werke alles in allem groß war. Pachl bietet auch einige neue Quellenfunde, so etwa drei Briefe, die Humperdincks Enkelin, die schwarze Schwester Evamaris, in ihrer dreibändigen Edition der Briefwechsel der Familie Wagner mit dem treuherzig genannten „Hümpchen“ damals nicht brachte, außerdem einige typisch siegfriedwagnersche, also launige Verse auf und für den geliebten Lehrer: mit intertextuellen Verweisen aufs eigene und aufs fremde Werk.
Was sonst noch Oper und Singspiel ist in Ausstellung und Buch, ist schillernd: hier die Tatsache, dass Humperdinck zwar an einigen Nibelungen-Orten lebte und der Privatkelterer gern den Rheinwein Drachenblut trank, aber sich nie (ich vermute: mit Sicht auf Wagner nicht grundlos) mit dem Nibelungenmythos auseinander setzte, dort die Zweiheit von Antisemitismus und Märchenwald. Birgit Kiupel unterrichtet von ihren Recherchen bezüglich Elsa Bernsteins, der Librettistin Königskinder – die Autorin der dunklen deutschen „Märchenoper“, Tochter von Heinrich Porges, der im unmittelbaren Umkreis Wagners für Wagner tätig war, wurde nach Theresienstadt verschleppt, überlebte aber das Kriegsende um vier Jahre; ein entzückendes Kostümfoto zeigt sie als Adelheid in Goethes Götz von Berlichingen (das sind so Funde). Wichtiger ist vielleicht die Beobachtung, dass der Komponist und natürlich Siegfried Wagners Mutter, deren Judenabneigung unüberwindbar war, Vorbehalte gegen das Textbuch der „hebräischen“ Autorin äußerten.
Humperdinck war, so heißt es, bürgerlich liberal, doch gleichzeitig war er ein Kind seiner Zeit: als Musikkritiker, der Wagner adorierte und Brahms schätze, gleichzeitig jedoch Bruch ablehnte, ihn als einfallslos abtat, womit er nicht ganz unrecht hatte, als Komponist nationaler Gesänge, insbesondere in Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg, aber auch als Musiker, der Wagner auf seine Weise weiterdachte, indem er dessen Empfehlung, Märchenstoffe zu komponieren, produktiv umwandelte. Ausstellung und Buch enthalten keine Biographie des Meisters (dafür muss man das Buch des Sohnes Wolfram Humperdinck studieren), aber einige gezielte, auch lokal relevante Studien zum Humperdinck des Rheinlandes: in Siegburg, Xanten, Boppard, als Sommerurlauber bei Schloss Homburg und als Besucher von Bonn und Poppelsdorf. Werke entstehen nicht im luftleeren Raum; die Beziehung zu den Heimatstätten vermag zwar keine einzige Melodie aus Hänsel und Gretel zu erklären, aber den geistigen Raum zu beleuchten, in dem sich Humperdincks musikalischer Intellekt und seine Weltsicht zu formen vermochte. Das Buch zur Ausstellung erläutert all diese Beziehungen, die oft allein touristisch, deswegen doch nicht unwichtig waren, weil sie offensichtlich in Humperdinck jene „gemütvolle“ (wie man damals sagte) Stimmung provozierten, die schließlich zu seiner einzigen populären Oper führen sollten, in der sich das deutsche Bürgertum so spiegeln konnte wie im Wasser des Rheins – auch wenn, Philipp Haugs Beitrag über „Humperdincks Musik im Spiegel seiner Zeit“ macht das klar, die Musikkritiker nicht von je der Meinung waren, dass Hänsel und Gretel auch aufgrund des Textbuchs ein gutes Stück ist und bleiben sollte.
Der Rest ist Musik- und Ortsgeschichte. Dass die Schau nun in Bayreuth, bei Steingraeber, zu sehen ist, ist kein Zufall, ja: die Veröffentlichung der Flügel-Geschichte mitsamt eines Bildes des Komponisten am Instrument im traulichen Zuhause vermag auch die Aura des Produktionsorts zu steigern. Es stimmt schon, was der Herr Direktor sagte: „Humperdinck ist so `ne Bayreuther Erscheinung“ – und ein bisschen mehr.
Die Ausstellung läuft bis 31.8.2021. Das Buch erschien im Verlag ratio-books und kostet 19,80 Euro (192 Seiten, viele auch farbige Abbildungen).
8.7.2021