Premiere: 13.8.2019. Besuchte Aufführung: 15.9.2019
Durch Wahnfried wandeln zwei Gespenster. Sie heißen Siegfried – und Siegfried. Denn so, wie im letzten Jahr in der Opernuraufführung „der verschwundene hochzeiter“ zwei fast gleich aussehende Brüder agierten, so haben wir es auch bei der zweiten Uraufführung der Bayreuther Festspiele des 21. Jahrhunderts mit einem Double zu tun – und so wie 2018 erscheinen auch hier die Doubles der Doubles im Video.
Eine Doublette ist schon der Titel. „Siegfried“, so heisst bekanntlich eine Oper, die 1876 oben im Haus am Grünen Hügel ihre Premiere erlebte. „Siegfried“, so heisst das Schauspiel, das Feridun Zaimoglu und Günter Senkel zum 150. Geburtstag des „Sohns“ geschrieben haben. Sie nennen es: einen Monolog, obwohl doch mehr als eine Figur auf der Bühne steht. Tatsächlich haben wir es mit mehr als einem Dialog zu tun, denn die beiden Protagonisten, die so etwas wie Siegfried Wagners Innerstes in radikaler Art und Weise nach außen bringen, haben es mit noch ganz anderen Ichs und Über-Ichs zu tun. Am Ende wird Felix Römer als Winifred Wagner eine unsichtbare Zigarette rauchen und sich mit Siegfried (doch welchem Siegfried??) unterhalten. Gut möglich, dass Winifred gar nicht Winifred, sondern nur ein verkleideter Siegfried ist, der im Frauenfummel endlich einen seiner Träume auslebt. So changieren Text und Inszenierung zwischen den Personen, also wörtlich: den „Masken“, die der unter verschiedenen äußeren und inneren Zwängen leidende Protagonist sich (vermutlich) wechselnd aufgesetzt hat. Nein, „Siegfrieds“ zwei Interpreten stehen nicht für jeweils andere Haltungen oder Interessen oder Neigungen oder gar moralisch besetzte Positionen ein. Siegfried I und Siegfried II spielen dieses stellenweise inszenatorisch derbe, sprachlich elaborierte Drama, um sich – mit zweifelhaftem Erfolg – aus der „öligen Lache“ herauszuarbeiten, in die ihn seine bisexuelle Veranlagung, sein übermächtiger „Pffaa-ter“ (wie das Wort herausgepresst wird!), seine Familie und der politische Druck gestoßen haben.
„Gäbe es meinen Zwilling, dessen Doppelgänger ich wäre, ginge es leichter. Er würde richten, was ich zerstampfte. Ich würde glätten, was er aufraute.“ War Siegfried Wagners Inneres wirklich ein Schlachtfeld der Gefühle? Hat der historische Siegfried, der zeitlebens kaum etwas in seinen mündlichen und schriftlichen Aussagen, vielleicht umso mehr in seinen Opern von sich preisgab, wirklich so intensiv mit sich und den „Seinen“ gekämpft, wie es die Aufführung suggeriert? Die Frage ist unwesentlich – denn die Güte eines Theaterstücks bemisst sich nicht nach dem sog. Realitätsgehalt. So betrachtet, ist es völlig unwichtig, ob die historische Figur namens Siegfried Wagner im Stück „getroffen“ oder „verfehlt“ wurde. Einzig entscheidend ist die Spannung, die aus den Konflikten des Stücks erwächst. In dieser Hinsicht haben die Autoren, der Regisseur Philipp Preuss und die beiden glänzenden, sich mit voller Wucht in den zweistündigen Abend werfenden Schauspieler Felix Römer und Felix Axel Preißler gaze Arbeit geleistet. Wir schauen auf ein archetypisches Drama eines Mannes, der sich auf einer Reise, die ihn weit von der sog. Heimat wegführt, in einen Mann verliebt, zufällig heisst er Clement Harris. Wir lernen ihn als Sohn eines offensichtlich als Problem empfundenen Vaters kennen, der sich 1914 – dies ist die erste Schicht des nur latent zweiteiligen „Monologs“ – mit einer „blöden Schwadronade“ als ganz normaler, hasspredigender Konservativer betätigt und offensichtlich gerade in tiefen Erbstreitigkeiten befangen ist. 1930 wird er sterben; davor rast es noch einmal in seinem Kopf: nun kann er die Spaltung seiner Ichs, die zugleich eine homosexuelle Annäherung mit dem anderen Mann zulässt, monströs ausleben: vorher in einer orgiastischen Szene im buchstäblichen Urwald der Gefühle, am Ende als Live-Projektion auf einem riesenhaft aufgeblasenen Ballon, der vielleicht die Welt sein könnte.
„Ins Innere dringen – das ist unsere deutsche Sucht“, sagt Siegfried, während der Andere in und außer ihm im Dreck wühlt, der die Bühne im ehemaligen Reichshofkino bedeckt. Eines der wichtigsten technischen Hilfsmittel dieses Abends ist der Rauch, der nicht zu wenig eingesetzt wird. Es ist der Kriegsrauch, es ist auch Siegfrieds Umwelt, die er so nebelhaft empfunden haben mag, aber, wie gesagt: Es kommt hier nicht auf irgend eine historische Stimmigkeit an. „Der Rauch ist der Hauch von Feuer“, heisst es, nachdem das denkbar harmlose wie entlarvende „Wahnfried-Idyll“ (ein Liedtext von Siegfried Wagner) die Abschottung Wahnfrieds zur als feindlich umgebenden Umwelt der Weimarer Republik markiert hat. „Alle sind nervenkrank“, hatte es getönt, bevor Römer in einer Winifred-Wagner-Karaoke-Szene (O-Ton aus dem Syberberg-Interviewfilm) die Begegnung Winifreds mit dem künftigen Ehemann schildert. Der Abend findet immer wieder zu neuen fantastischen Bildern: die unter Leinen verborgenen Siegfriede werden von ihren projizierten Doppelgängern gedoubelt, die sich auf den unter Leinen versteckten Körpern abzeichnen (man denkt an die unter den Stoffen verborgenen, vor Staub und Schmutz geschützten Möbelstücke im Salon von Haus Wahnfried) und sich schließlich im Videobild von den „Originalen“ entfernen: Siegfried, an einem endlich offenen Wahnfried-Fenster in irgendeine Freiheit winkend…
Der Abend hatte noch ganz harmlos begonnen: mit Siegfried Wagners Text zu seinem „Märchen vom dicken, fetten Pfannekuchen“. Ein typisch siegfriedwagnerscher Text, launig an der Oberfläche, in der Tiefe ätzend: hier gegen seine Schwestern (aber vielleicht ist dies auch schon eine Überinterpretation). Dass S.W., so Zaimoglu, ein „lustiger Mann“, ein Schelm und Kastenteufel gewesen sei: die Aufführung beglaubigt es mit einem sehr düsteren Ton und obszönen Späßchen. Später werden sich Römer und Preißler einen Pfannkuchen aufs Gesicht legen und ihn nach und nach verzehren: das ist dann so gruselig wie grotesk. Zwischendurch wird Bach gespielt, nicht Wagner, die Musik perlt seelenbalsamisch hinein. Alexander Nemitz hat dem Abend einen polyphonen, aus Musikfetzen und Geräuschen gewirkten Klangteppich untergelegt, in der ferne Erinnerungen an Charles Ives‘ „The unanswered question“ ihren sinnvollen Platz fanden. Wir ahnen: Es wird nicht gut ausgehen – weder persönlich noch politisch. Wie dieser Protagonist eines vermeintlichen Deutschtums sich zu Hitler stellte: es bleibt unklar, muss es angesichts der widersprüchlichen Zeugnisse, die teilweise zitiert werden, auch bleiben. Als die Schauspieler die „wahren Deutschen“ im Publikum auffordern, aufzustehen, steht natürlich so gut wie niemand auf. Was soll es auch, wo am Anfang ein seltsames Paar die Bühne betrat, um sich im Verlauf des Abends systematisch einzudrecken: Siegfried I als „edler Ritter“, Siegfried II im Frauenfummel; beide Verkleidungen werden bald bis auf die Unterhose abgelegt. Später werden die beiden dann mit ihren zwei Pinocchionasen fröhlichen Oralverkehr treiben.
Der Rest ist nicht Schweigen, sondern das Verschwinden und Verkrauchen dieser beiden Siegfrieds unter dem Ballon, ist eine nur noch schwer hörbare Aufzählung der nicht gespielten Werke des letzten Endes vor der Musikgeschichte gescheiterten Komponisten. Es ist auch ein Lied, aus dem wir lange vorher schon zwei einsame Töne gehört haben. Es ist nicht von Siegfried Wagner, sondern von Gustav Mahler – gleichsam einem Überlebenden der Musikgeschichte – geschrieben worden und mag so etwas wie Siegfrieds letzten Traum zum Klingen bringen: „Ich bin der Welt abhanden gekommen“. Und der Balkon des Festspielhauses bleibt leer.
Langer Applaus für einen anspruchsvollen, inszenatorisch fantsievollen und schauspielerisch intensiven Abend über einen Mann, der zufällig, doch auch in schwerer Ironie, Siegfried heisst und hieß.
Frank Piontek, 16.8.2019