Besuchte Aufführung: 28.12.2019 (Premiere: 2.12.2018)
Computerspiel und Theaterstreit
Seit einiger Zeit steht Prokofjews Oper Die Liebe zu drei Orangen wieder auf dem Spielplan der Stuttgarter Oper. Und wie bei der Premierenserie vor einem Jahr erwies sich diese ungemein kurzweilige, interessante, farbige und bildgewaltige Aufführung als wahrer Straßenfeger. An diesem gelungenen Abend war das Stuttgarter Opernhaus ausverkauft. Das Interesse an dieser Oper war sehr groß. Auch Kinder sah man im Publikum. Auffällig ist, dass im Titel der Artikel den fehlt. Auf ihn wurde in Stuttgart aber bewusst verzichtet, um den Silben des Russischen besser zu entsprechen. Das Ganze ging in einer deutschen Textfassung von Werner Hintze über die Bühne. Dass das Werk nicht in der Originalsprache gegeben wurde, war stilistisch problematisch.
Carole Wilson (Fata Morgana), Michael Ebbecke (Der Zauberer Celio), Staatsopernchor, Statisterie
Dennoch geriet die Vorstellung zu einer großartigen Show. Mit Blick darauf, dass die Oper im deutschsprachigen Raum nicht allzu bekannt ist, seien einige Worte zum Inhalt erlaubt: Der Prinz eines Königreiches krankt daran, nicht lachen zu können. Durch einen plötzlichen Ausbruch von Schadenfreude wird er zwar geheilt, gleichzeitig aber auch mit dem Fluch belegt, sich in drei Orangen zu verlieben. Gemeinsam mit seinem Freund Truffaldino begibt er sich auf die Suche nach den drei Orangen, findet und befreit sie aus Kreontas Palast, kann jedoch nur eine der in den Orangen steckenden Prinzessinnen retten, die er schließlich aber, nach diversen Komplikationen und dem beherzten Eingreifen verschiedenster Mächte, doch noch heiratet (Programmbuch S.6). Der Handlung liegt eine Vorlage von Carlo Gozzi zugrunde, für den das Überraschende, das Fantastische und der Schauwert die entscheidenden Kriterien waren (vgl. Programmbuch S.21). Genau auf diese Aspekte legt das Regieteam, bestehend aus Axel Ranisch (Regie), Saskia Wunsch (Bühnenbild) sowie Bettina Werner und Claudia Irro (Kostüme) auch einen Schwerpunkt seiner überaus gelungenen Deutung. Zu Recht zeigte sich das Auditorium am Ende begeistert von dem Gesehenen. Der Regisseur und sein Team haben die in sie gesetzten Erwartungen voll und ganz erfüllt. Diese hoch ansprechende Inszenierung stellt eine wahre Augenweide dar, die man noch lange in Erinnerung behalten wird. Das gilt neben dem imposanten Bühnenbild auch für die sehr gefälligen Kostüme.
Bei Axel Ranisch spielt sich die Handlung in einem Computerspiel der frühen 1990er Jahre mit Namen Orange Desert III ab. Die Welt wird als Computerwelt interpretiert, die aus lauter Pixeln aufgebaut ist. In dieser Produktion wird man mit gebauten, animierten und gespielten Pixeln konfrontiert, die der Regisseur gekonnt zu einer Einheit zwingt. Das gesamte Bühnenbild besteht aus Pixeln. Die unterschiedlichen Ebenen um den kranken Prinzen, die sich auf verschiedene Seiten schlagenden Zauberer und das Computerspiel fügen sich zu einer überzeugenden Symbiose zusammen. Das muntere Geschehen spielt sich auf dem Grunde eines ausgetrockneten Sees in einem Schiffswrack ab. Hier sind Durst und Langeweile an der Tagesordnung. Eine gute Idee seitens der Regie war es, einen immer wieder per Video sichtbaren Knaben, der durch nichts von seinem Computer wegzukriegen ist, in das Zentrum der Handlung zu stellen. Er weigert sich, zu dem von seinem Vater zubereiteten Essen zu kommen, sondern bleibt lieber am Laptop sitzen und vergnügt sich mit seinem Computerspiel. Nachhaltig wird er vom Regisseur mit dem großen Weltenlenker Farfarello gleichgesetzt, der mehrmals in das Geschehen eingreift. Das Kind Serjoscha schafft sich eine Bühnenwelt, die in gleichem Maße grotesk und komisch anmutet. Im zweiten Teil des Abends werden die Gefahren von Computerspielen offenkundig: Der Junge wird von der bösen Zauberin Fata Morgana, auf deren Seite er sich zuvor geschlagen hatte, auf einmal in die virtuelle Welt hineingezogen. Nun muss sein Vater das Spiel zu Ende bringen, was auch gelingt. Am Ende gelangt Serjoscha wieder in die reale Welt. Begleitet wird er indes von den entflohenen Intriganten Fata Morgana, Clarice, Leander und Smeraldina. Die Realität bietet den Übeltätern Schutz vor der drohenden Hinrichtung. Der Prinz und die schwangere Ninetta erfreuen sich in der Zwischenzeit ihres Lebens. Die vom Zauberer Celio für ihre Dienste bezahlte und instrumentalisierte Prinzessin, die im dritten Akt einem abenteuerlich anmutenden Flugobjekt entsteigt – das tun die anderen zwei Königstöchter auch -, gebiert passenderweise eine Orange, wobei Celio ihr als Geburtshelfer assistiert.
Kai Kluge (Prinz)
Geschickt verzahnt Ranisch die verschiedenen Ebenen miteinander, was den großen Reiz seiner Interpretation ausmacht. Die Überlagerung der unterschiedlichen Handlungsstränge war vollauf gelungen. Zu der Geschichte um den kranken Prinzen, den Zauberern und dem Computerspiel kommt noch eine vierte Ebene dazu. Bereits zum Anfang des Stücks lässt Prokofjew eine Schar von Anhängern verschiedener Theatergenres auftreten. Unter ihnen kommt es zum Streit. Die Tragiker wünschen sich Tragödien, die Komischen Komödien und die Lyrischen eine Liebesgeschichte. Ferner gibt es hier noch die Sonderlinge, auf deren Initiative die Aufführung des Stücks Die Liebe zu drei Orangen beruht. Sie nehmen eine zentrale Stellung innerhalb des Werkes ein. Oftmals greifen sie in die abwechslungsreiche Handlung ein und sind letzten Endes auch für das Happy End verantwortlich. Sie werden vom Regisseur als russische Aktivisten gedeutet, die das Stück zur Aufführung bringen. Sie befinden sich fast durchweg auf der Szene und leiten vom rechten Teil der Bühne aus als Regieteam das Geschehen. Hier thematisiert Ranisch gekonnt alte Theaterdispute. Der Streit zwischen Gozzi und Goldoni wird ebenso behandelt wie die Auseinandersetzung zwischen Meyerhold und Stanislawski. Dem Programmbuch ist zu entnehmen, dass es Gozzi um die Artifizialität bzw. die Natürlichkeit der Commedia dell’ Arte ging. Goldoni dagegen war um eine Reformierung des Schauspiels bemüht und plädierte für das Ende der Improvisation und die Abschaffung der Masken. Stanislawski trat für eine auf dem Naturalismus fußende Psychotechnik ein. Als Abgrenzung dazu entwickelte Meyerhold seine radikal antirealistische Spielweise der Biomechanik. Um die Aufzeigung dieser Streitereien geht es in der Produktion. Die Theater-Dispute werden von Ranisch auf überzeugende Art und Weise miteinander in Einklang gebracht. Am Ende sind die Kämpfe beigelegt. Jede Art des Theaterspielens hat ihre Berechtigung. Mit diesem Ansatzpunkt des Regisseurs konnte man vollauf zufrieden sein. Hier haben wir es mit spannendem und gleichzeitig ästhetisch schönem Musiktheater zu tun, das einen ganz in seinen Bann zog.
Ensemble, Staatsopernchor
Größtenteils zufrieden sein konnte man auch mit den gesanglichen Leistungen. Kai Kluge war ein darstellerisch recht versierter Prinz, wartete vokal aber leider mit einem variablen Stimmsitz auf. Sein Namensvetter Daniel Kluge sang als Truffaldino ebenfalls stark in die Maske. Schauspielerisch war er dagegen phantastisch. Besser gefiel Carina Schmieger, die einen trefflich gestützten, farbenreichen Sopran für die Ninetta mitbrachte. Beachtlich schlug sich der Zauberer Celio von Michael Ebbecke. Ein äußerlich unsympathischer, stimmlich aber hervorragender Leander war Shigeo Ishino. Kräftig und markant klang Stine Marie Fischer s Prinzessin Clarice. Stimmgewaltig gab Carole Wilson die Fata Morgana, die sie auch ansprechend spielte. Ebenfalls nichts auszusetzen gab es an Fiorella Hincapié in der Doppelrolle von Smeraldina und Nicoletta. Mit sauber geführtem, geradlinigem und sonorem Bariton stattete Johannes Kammler den Pantalone aus. Als Köchin und Farfarello bewährte sich mit profundem Bass Matthew Anchel. Solide sang David Steffens den Kreuz-König und den Herold. Gut gefiel auch die tiefgründig klingende Alexandra Urquiola in der kleinen Partie der Linetta. Elliott Carlton Hines (Zeremonienmeister) rundete das homogene Ensemble ab. Trefflich bewährte sich der junge Ben Knotz als Serjoscha. Wie immer vorzüglich präsentierte sich der von Manuel Pujol einstudierte Staatsopernchor Stuttgart.
Einen guten Eindruck hinterließen Valentin Uryupin am Pult und das blendend disponierte Staatsorchester Stuttgart. An diesem Abend erlebte man einen differenzierten und nuancenreichen Klangteppich, dessen Farben trefflich herausgearbeitet wurden und der sich obendrein durch eine famose Transparenz auszeichnete.
Fazit: Eine hoch gelungene Aufführung für Groß und Klein, die wärmstens empfohlen werden kann!
Ludwig Steinbach, 29.12.2019
Die Bilder stammen von Matthias Baus
Karikatur (c) Der Opernfreun / Peter Klier