Wien: „Parsifal“ (Stream)

In der Tat: Zeit für eine Neuinszenierung!

Man sagt ja oft, wenn man an Veränderungen oder gar Erneuerungen denkt, „es komme nichts Besseres nach“. Selten wurde mir in den letzten Jahren an der Wiener Staatsoper die Relevanz dieser Ansicht offenbarer vor Augen geführt (und die Betonung liegt in der Tat auf dem Sehen) als bei der Ersetzung des auch nicht gerade begeisternden, da sich zu sehr mit der DDR-Aufarbeitung beschäftigenden Mielitz-„Parsifal“ von 2004, durch eine Neuinszenierung von Alvis Hermanis im Jahre 2017. Obwohl ich die Produktion erst im Jahre 2018 sah, konnte ich mich noch nicht dazu durchringen, sie zu rezensieren. In der momentanen Covid 19-bedingten Saure-Gurken-Zeit, in der leider nahezu kein Politiker an die Schäden für den Kultur- und Kunstbetrieb denkt, die durch die flächendeckenden Maßnahmen des sog. lock downs entstehen (werden), bzw. dessen Bedeutung im gesellschaftlichen Leben überhaupt zu erkennen scheint, treten natürlich die streams in den Vordergrund. Der deutsche Bundespräsident Steinmeier hat jedoch erfreulicherweise am 1. Mai anlässlich des Tages der Arbeit bei einem Konzert in der Berliner Philharmonie unter Kirill Petrenko vor leeren Rängen explizit auf die Bedeutung von Kultur und Kunst hingewiesen, ja sie seien ein „Lebensmittel“. Wie wahr!! Diese Erkenntnis würde man nun auch gern in der weiteren politischen Umsetzung erleben. Auch die Wiener Staatsoper bietet ja nun streams in großer Fülle und sogar kostenlos – wie andere große Häuser schon seit langem – an. Sie bieten sich als temporäre Alternative für nicht zu ersetzende Live-Opernerlebnisse an.

Zwar bin ich mit der musikalischen Besprechung solcher streams wie auch von Kino-Übertragungen immer sehr skeptisch. Es kann einfach an allzu vielen Knöpfen gedreht werden und wird es auch, wie ich selbst feststellen konnte. Aber ich habe exzellente Kopfhörer, high end. Und sehen kann man ohnehin das, meist ja noch besser wegen guter Nahaufnahmen, was tatsächlich auf der Bühne zu sehen ist und abgeht, oder auch nicht. So habe ich mir die Aufführung vom 13. April 2017 neulich im stream angesehen und möchte hiermit posthum, denn die Produktion wird ja GsD von Bogdan Roščić aus dem Programm genommen, noch eine Rezension verfassen.

Alvis Hermanis , mir durchaus in bester Erinnerung mit einer bestechenden Inszenierung von Zimmermanns „Soldaten“ bei den Salzburger Festspielen, kam nach Wien und machte sich Gedanken, wie man Richard Wagners „Parsifal“ interpretieren könnte. Er kam auf den berühmten Wiener Jugendstil-Architekten Otto Wagner mit seiner ebenso berühmten Kirche und der seit Oktober 1907 betriebenen

Niederösterreichischen Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Geisteskranke am Steinhof, obwohl der Architekt außer dem ohnehin geläufigen Namen nichts, aber auch rein gar nichts mit Richard Wagner zu tun hat. Und dabei war die Idee gar nicht einmal originell. Denn diese hatte schon zuvor an der Wiener Staatsoper, der ohnehin auf geistig verkopfte Wagner-Interpretationen spezialisierte, deutsche Regisseur Claus Guth für seinen damals neuen „Tannhäuser“. In der Direktion Meyer landete Wien also gleich zwei Steinhof-Versionen bedeutender Wagner-Werke, die beide nicht den Herausforderungen ihres Schöpfers und der von ihm beabsichtigten Werkaussage, seiner eigentlichen Botschaft also, gerecht werden – der „Parsifal“ von Hermanis noch weit weniger als der „Tannhäuser“ von Guth.

Wenn der Vorhang hochgeht, ist jeder natürlich zunächst einmal beeindruckt vom imposanten Bühnenbild, welches ebenfalls der Regisseur, ganz im Einklang mit seiner Steinhof-Besessenheit, schuf, also Alvis Hermanis selbst. In Bayreuth waren alle noch von den fantasievollen und beeindruckenden und auch prämierten Bühnenbildern von Aleksandar Denic in der Castorf-Inszenierung des „Ring des Nibelungen“ fasziniert, ohne die diese Produktion wohl kaum fünf Jahre auf dem Spielplan zu halten gewesen wäre. Hier aber starren wir den ganzen Abend auf dasselbe, ja nicht einmal das gleiche Bühnenbild, wenn man von dem Einschieben einer steril-weißen Kachelwand (die immerhin sehr sängerfreundlich ist) in der Pathologie des 2. Aufzugs und ein paar Wandverschiebungen hier und da einmal absieht. Ein Bühnenbild, an dem man sich entsprechend schnell satt gesehen hat, zumal es praktisch keine Lichtregie gibt, die vielleicht den einen oder anderen Zauber hätte erzeugen können.

Das Bild wird beherrscht von den vier Engeln vor dem Portal der Kirche am Steinhof und den entsprechenden Jugendstil-Verzierungen der Frontverglasung und Innenarchitektur. Wir sehen die Nerven- und Geisteskranken, freilich ebenso Gralsritter wie Herren mit Business-Anzug und Krawatte, die zahlenmäßig weit über eventuell zu vermutendes Krankenhauspersonal hinausgehen, also als Gralsritter ebenso unerklärlich bleiben wie die Kranken.

Ihre Assoziation zur Gralsgesellschaft wirkt eher an den Haaren herbeigezogen, denn sinnhaft dargestellt. Gleichwohl werden werkgetreu Brot und Trank verabreicht… Eindrucksvoll geriet aber der lange Blick, den Amfortas nach der Zeremonie auf Parsifal wirft. Das hatte jedoch schon Frau Mielitz erfunden, unvergesslich damals mit Thomas Quasthoff als Amfortas! Im 2. Aufzug wimmelt es natürlich von den üblichen weißen Krankenhaus-Stahlbetten, in denen man bereits Verstorbene zu gewahren glaubt. Aber nein, es sind die „Zaubermädchen“, die sich im passenden Moment völlig unerotisch aus ihrer Horizontale erheben und eine Altherren-Nummer mit Parsifal veranstalten, bzw. verunstalten… Hätte sich Hermanis doch mal angesehen, wie Stefan Herheim das in Bayreuth gemacht hat!

Allein Gurnemanz, freilich durchgängig im weißen Oberarzt-Kittel, hat eine kleine Ecke für sich, mit Schreibtisch, Telefon, Grammophon und einem Bücherregal mit Föten in Chloroform in Gläsern, wie sie in der St. Petersburger Kunstkammer von Zar Peter I. zu sehen sind. Diese Ecke des Gurnemanz ist mit einer gegen das grelle Weiß der Heil- und Pflegeanstalt abgehobenen gelblichen und damit eine gewisse Heimeligkeit vermittelnden Beleuchtung versehen. Hier wird diese also einmal dramaturgisch wahrnehmbar. Gurnemanz ist der Gute. Seine „gemütliche“ Ecke kann beliebig ein- und ausgeschoben werden, unabhängig vom jeweiligen Aufzug…

Inszenierungsgemäß vermitteln die Kostüme von Kristine Jurjane durchgängig simple Krankenhaus-Ästhetik vornehmlich in Weiß und Beige, abgesehen von den Herren in Anzügen und der wilden Reiterin Kundry, die im 2. Aufzug ein prachtvolles orientalisches Gewand tragen darf, also einmal nicht im Schador aufkreuzen muss. Parsifal kommt mit einem goldenen Sixpack-Brustpanzer daher, der an die Römerzeit erinnert. Meines Erachtens ein glatter Kostüm-Ausrutscher, zumal er sich im Dialog mit Kundry alles andere als kämpferisch gibt, ja sich zum Kuss sogar ganz brav auf die Krankenbahre legt, auf der sie kurz zuvor vom Pathologen Klingsor noch mit Elektroschock erweckt wurde…

Und damit wären wir bei der Personenregie, die sich Hermanis dazu hat einfallen lassen und die alles noch viel schlimmer macht. Wenn man so sehr ins Detail der bekannten Niederösterreichischen Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Nerven- und Geisteskranke am Steinhof einsteigt, wird man schnell zum Gefangenen seines eigenen Regiekonzepts. Und genau das ist Hermanis hier passiert, bis hin zur Groteske. Damit meine ich insbesondere das unprofessionelle Herumfummeln des männlichen medizinischen Personals unter oberärztlicher Aufsicht (Klingsor!) mit Elektroschocks in der Pathologie von Steinhof an einer offenbar bereits Verstorbenen zu Beginn des 2. Aufzugs. Möglicherweise war es Herzeleide, die da nicht mehr aufwachte. Aber was hat die da zu suchen…?“! Mit diesem Aktionismus wird das ganze herrliche Vorspiel völlig über“spielt“ und geht somit verloren. Nur um zu zeigen, dass es dem Magier Klingsor im Arztkittel – selbstredend – gelingt, nach mehrmaligem Hochfahren der Ampère-Zahl Kundry tatsächlich aus ihrem Schlaf zu erwecken, mit dem berühmten Schrei, den allein Wagner von diesem ganzen Zirkus angeordnet hat.

Der Gral ist ein großes gläsernes Gehirn, dessen Erhebung der vollverbundene Amfortas mit Kopf(!)wunde (deshalb das Gehirn?!) im 1. Aufzug völlig unkoordiniert mit der Musik vollzieht. Im zweiten Aufzug ist es ein Megahirn, in dem der Speer steckt – eine absurde Assoziation der beiden mythischen komplementären Elemente christlichen Glaubens, der Longinus-Lanze und des Grals. Und offenbar in keiner Hinsicht ausgedacht, wenn man mal davon absieht, dass in einer Anstalt wie dieser vornehmlich gehirnbezogen „behandelt“ wird. Was sollte das?!

Kundry muss zunächst in einen Gitterkäfig gesperrt werden, womit man der Rolle die ganze Substanz ihres ersten Auftritts nimmt. Wieder sind dazu zwei Krankenschwestern im Spiel, die sich auch schon bei Christine Mielitz um Kundry kümmerten… Und dann immer das emsige Getue der Krankenschwestern um Amfortas herum mit dem Bettbeziehen und der Pfleger mit anderen Kranken! Es ist nervend, jedenfalls für mich. Auf der anderen Seite sieht Amfortas gemütlich zu, wie Parsifal dem Hirn den Speer entzieht. Es macht ihn wie Kundry, die sich nach ihren Verführungsversuchen wieder auf der Chaiselongue niedergelassen hat, allenfalls etwas nachdenklich. Dass noch drastischer an der Musik vorbei inszeniert wird, ohne dass es ausdrücklich, wie es Frank Castorf 2013 für seinen „Ring“ noch tat, postuliert wird, habe ich noch nie erlebt. Man muss sich fragen, ob sich der Regisseur jemals mit der Partitur des „Parsifal“ und ihren Aussagen beschäftigt hat. Es war einfach nur ärgerlich, das zu gewahren. So möchte ich gar nicht auf weitere solch unausgegorene Ungereimtheiten eingehen. Sie haben es gar nicht verdient…

Umso Erfreulicheres ist vom Sängerensemble zu berichten, welches an diesem Abend angetreten war. Kwangchul Youn sang einen klangvoll balsamischen Gurnemanz mit exzellenter Diktion und Phrasierung, leider dramaturgisch stark eingeschränkt. Nina Stemme glänzte mit einer eindringlichen Kundry und ihrem vollen Sopran bei guter Attacke und auch dramatischen Höhen mit guter Wortdeutlichkeit, damals noch weit besser als zuletzt in der Wiener „Frau ihne Schatten“. Christopher Ventris war immer schon ein guter und einfühlsamer Parsifal, der seine besondere Verinnerlichung der Rolle auch an diesem Abend wieder unter Beweis stellte. Bei ihm sind die Zwischentöne wichtiger als dramatische Ausbrüche. Gerald Finley gab einen eher gesangsbetonten, etwas zurückhaltenden Amfortas mit bester Phasierung, vokal durchaus passend zu seiner unscheinbaren Optik unter den vielen anderen Kranken. Auch er sang äußerst wortdeutlich. Jongmin Park gab einen prägnanten Titurel mit vollem Bass. Jochen Schmeckenbecher , sonst Alberich vom Dienst, sang den Klingsor mit einer nicht immer ganz schönen, aber umso besser zur Boshaftigkeit der Partie passenden Stimme, wenn die Partie nur boshaft dargestellt worden wäre… So kam er als langweiliger Pathologe mit blutverschmiertem Kittel herüber. Die ganz unzauberhaften Zaubermädchen waren mit Ileana Tonca , Olga Beszmertna und Margaret Plummer in der ersten und mit Hila Fahima , Caroline Wenborne und Ilseyar Khayrullova in der zweiten Gruppe gut besetzt. Monika Bohinec sang klangvoll die Altstimme. Benedikt Kobel , Clemens Unterreiner , Ulrike Helzel , Zoryana Kushpler , Thomas Ebenstein und Bror Magnus

Tødenes waren gute Gralsritter und Knappen, absolut auf Staatsopernniveau wie die Zaubermädchen.

Semyon Bychkov dirigierte das Staatsopernorchester mit klarer Akzentuierung und viel Sinn für Stimmungen, die sich bei dieser Inszenierung nicht, aber beim Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ im Allgemeinen einstellen. Großartig gelangen somit auch die Verwandlungsmusiken und die Einbindung des bestens und transparent singenden Staatsopernchores, der von Martin Schebesta einstudiert worden war. Musikalisch war es also ein guter „Parsifal“, szenisch ein entbehrlicher. Und so darf man sich freuen, dass nun ein neuer kommt – nach nur drei Jahren! Das sagt eigentlich an einem Haus wie der Wiener Staatsoper alles…

Fotos: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Klaus Billand/3.5.2020 (stream)

www.klaus-billand.com