8.5.2018, (Premiere am 7.5.2018)
Tschechows Drama „Die Möwe“ in der Ballettfassung von John Neumeier erlebte seine Uraufführung am 16. Juni 2002 in Hamburg. 2017 erfolgte in Hamburg eine erfolgreiche Neueinstudierung, die nun auch an zwei Abenden im Theater an der Wien gezeigt wurde. Für seine freie Interpretation der dramatischen Vorlage wählte der Starchoreograph, der auch für das Bühnenbild und die Kostüme verantwortlich zeichnete, Musik von Dmitri Schostakowitsch, Alexander Scriabin, Peter Iljitsch Tschaikowsky und Evelyn Glennie (geb. 1965), der nahezu gehörlosen britischen Schlagzeugerin und Komponistin, aus. Stilistisch schließt Neumeier mit seiner ausgefeilten Choreographie an die Tradition von Frederick Ashton, John Cranko und Antony Tudor an. Daneben finden sich noch Elemente des Ausdruckstanzes, des klassischen- wie des Revuetanzes. Wenn in Tschechows Original die Figuren Autoren, Schauspielerinnen und Regisseure sind, werden sie bei Neumeier, unter Beibehaltung der amourösen Verwicklungen, natürlich in die Welt des Balletts übersetzt. Da treffen die alternde Primaballerina Irina Arkadina und ihr Liebhaber, der Choreograph Trigorin, auf Kostja, den Sohn Arkadinas und dessen Freundin Nina, die auch Tänzerin werden möchte. Für ihre Karriere hofft sie auf eine Unterstützung durch Trigorin, geht nach Moskau und landet in einem Revuetheater. Jahre später trifft die als Tänzerin gescheiterte Nina wieder den inzwischen erfolgreich gewordenen Choreographen Kostja und weist ihn abermals zurück, worauf dieser schließlich Selbstmord begeht…
Wie ein roter Faden zieht sich Tschechow/Neumeiers Erkenntnis von der Unfähigkeit der Menschen, zueinander zu finden und ihre wahren Gefühle preis zu geben, durch das Stück. Zu Beginn der Aufführung schreitet der in der Ukraine geborene erste Solist Artem Ovcharenko langsam die Stufen eines sich am linken Bühnenrand möglicherweise befindlichen Landhauses elegant und graziös hinab. In der Rolle des jungen Künstlers Kostja nimmt er auf der Bühne Platz und faltet eine Möwe aus Papier. Wird die Möwen bei Tschechow noch abgeschossen, so wird sie bei Neumeier zum Symbol der Freiheit der Kunst. Seine große Liebe, Nina, wurde von der in Bukarest geborenen Alina Cojocaru in all ihren Entwicklungsstufen vom anfänglich noch jungen naiven Mädchen bis zum abgebrühten Revuegirl, durch die Enttäuschungen ihres Lebens abgehärtet, roh und gefühllos geworden, erschreckend glaubwürdig interpretiert. Anfänglich laufen sie noch ausgelassen im Kreis und finden dann zu akrobatisch anmutenden Hebefiguren und Verstrickungen ihrer Beine und Arme, wie sie weiland an Neumeiers berühmtes Pas-de-deux zwischen Joseph und Potiphars Gattin in seiner Choreographie von Richard Strauss‘ Josephslegende an der Wiener Staatsoper 1977 erinnern. In Kostjas Traum-Stück „Die Seele der Möwe“ tanzt sie die Hauptrolle und wird von den verständnislosen Zuschauern, einschließlich Kostjas Mutter ausgelacht. Die Kostüme erinnern dabei in Form und Farbe nicht von ungefähr an die russischen Avantgarde-Tänze der 20er Jahre. Futuristisch gibt sich diese Traumwelt Kostjas, ausdrucksstark von Mayo Arii, Giorgia Giani, Yun-Su Park, Marià Huguet, Aleix Martínez, David Rodriguez und Pascal Schmidt zu Ausschnitten aus Evelyn Glennies „Shadow behind the Iron Sun“ (2000), zelebriert. Kostjas Mutter Irina ist eine traditionelle Primaballerina und hält nichts von der exzentrischen Kunstauffassung ihres Sohnes. Anna Laudereverkörpert diese schwierige Mutter, die ihren Sohn so gar nicht verstehen kann und will und nur ihrer großen Rollen, die sie einst getanzt hat, wehmütig gedenkt. Kostja aber verliert nach dieser erfolglosen Aufführung seine Nina an den eitlen Choreographen Trigorin, den Dario Franconi als Bonvivant grandios persifliert. Dieser übt mit seiner jungen Elevin zunächst klassische Posen und Schritte ein, Kostja tritt hinzu und es ergeben sich im Kampf der Rivalen um die naive Nina daraus spannende Pas-de-deux, wie Pas-de-trois Kombinationen. Trigorin ist aber auch der Liebhaber von Irina und deren Chef und wird natürlich seine erste Tänzerin, die ihm ein lukratives Einkommen sichert, für einen Backfisch wie Nina niemals verlassen. Kostjas Tragik seines Leben besteht letztlich darin, dass er sowohl Nina als auch seine Mutter an diesen Lebemann Trigorin verliert.
Die Tristesse, in der sich alle Paare auf der Suche nach ihrem höchstpersönlichen Liebes- und Lebensglück befinden, wird freilich durch die tragikomische Figur von Onkel Sorin, dem Bruder Irinas und Besitzer des Landgutes am See, wo sich die Ereignisse abspielen. Lloyd Riggins gibt diesen schrulligen und etwas verschrobenen Sorin bisweilen als Persiflage auf Charly Chaplin, der immer wieder völlig unerwartet auftaucht. Einmal erleidet er einen Schwächeanfall, aber der herbei geeilte Arzt (Mathieu Rouaux) kann die Sommergäste auf dem Landgut von Sorin bald wieder beruhigen. Riggins ist übrigens John Neumeiers Stellvertreter beim Hamburger Ballett und wird bereits jetzt als dessen Nachfolger gehandelt.
Im zweiten Teil befinden wir uns dann in einem Revuetheater in Moskau, passend dazu Schostakowitsch Operettensuite „Tscherjomuschki“. Und als protzige „Stars“ dieser Revue agieren Lucia Ríos und Florian Pohl. Nina ist auch eine der Revue-Tänzerinnen und erblickt plötzlich Trigorin, der sich mit drei Ballerinen in weißem Tutu amüsiert. Als er sie erkennt, flammt noch einmal für einen kurzen Augenblick die alte Leidenschaft zwischen ihnen wieder auf. Danach lässt Trigorin sein eigenes Ballett „Der Tod der Möwe“ mit Irina in der Hauptrolle als Parodie auf „Schwanensee“ höchst genüsslich aufführen. Er selber tritt dabei als selbstzufriedener Macho in einem Leopardenfell auf. Eine kleine Episode ist Mascha, getanzt von Xue Lin, der Tochter des Gutsverwalters bei Sorin, Schamrajew (Graeme Fuhmann) und dessen Frau Polina (Yaiza Coll), gewidmet. Diese begehrt vergebens Kostja und begnügt sich schließlich mit dem Lehrer Medwedenko, der von Jacopo Bellussi äußerst energiegeladen dargeboten wurde. Ganz zerbrochen kehrt die völlig schwarz gekleidete Nina zurück und sucht Trost in den Armen Kostjas, der sie noch immer liebt. Aber sie ist Trigorin noch immer hörig und verlässt schließlich nach einem wunderschönen Pas-de-deux den völlig gebrochenen Kostja, der zunächst die papierene Möwe langsam zerreißt und damit für immer all seine künstlerischen Träume begräbt. Er fällt auf den Boden, wo er schließlich regungslos liegen bleibt. Zu erwähnen sind auch noch in kleineren Rollen die Gutsarbeiter Jakow und Dima, getanzt von Eliot Worrellund Aljoscha Lenz und Arkadinas drei Verehrer, Greta Jörgens, Leeroy Boone und Illia Zakrevskyi.
Das Wiener KammerOrchester wurde bei dieser musikalischen Neueinstudierung des Theaters an der Wien von dem 1959 in Helsinki geborenen finnischen Pianisten, Dirigenten und Professor für Opernpädagogik an der Sibelius-Akademie, Markus Lehtinen, mit Verve geleitet und schlug sich wacker durch sämtliche Stillrichtungen russischer Klassik wie Avantgarde und den perkussiven Klangclustern von Evelyn Glennie. Bravo“
Das Publikum war begeistert und schwärmte bereits in der Pause von der stupenden Aufführung und Neudeutung von Tschechows Möwe durch John Neumeier. Alle Beteiligten konnten sich eines lang anhaltenden Applauses erfreuen und auch John Neumeier kam zur Verbeugung vor den Vorhang und bedankt sich bei den Mitgliedern des Orchesters und allen Mitwirkenden „seines“ verdienstvollen Hamburger Balletts.
Copyright: Kira West / TadW
Harald Lacina 10.5.2018