„Keine Angst vor neuen Tönen“ hatte der Dirigent Ingo Metzmacher einst sein lesenswertes Buch über zeitgenössische Musik betitelt. „Angst“ vor Tönen braucht man auch beim Anhören von George Benjamins Oper nicht zu haben. Das Werk des Engländers war 2018 als Koproduktion von gleich sieben bedeutenden Bühnen (Royal Opera House, Staatsoper Hamburg, Opéra de Lyon, Teatro Real Madrid, Liceu Barcelona, Lyric Opera Chicago, Amsterdam) uraufgeführt worden und erklang gestern Abend in Zürich sowohl als Schweizer Erstaufführung – die geplante Aufführung in St.Gallen fiel leider Corona zum Opfer – als auch als erste Aufführung in einer anderen Inszenierung als derjenigen von Katie Mitchell in der Uraufführungsserie. George Benjamins Musik ist von transparenter Klarheit geprägt, atmet licht und meistens in hellen Farben, ist nie überinstrumentiert und schwer – Benjamin selbst erklärte, dass er bei aller Komplexität der Partitur keine musikalische „Bouillabaisse “ komponieren wolle – und trotzdem von faszinierender Dichte, dazu ist sie äußerst sängerfreundlich – wenigstens von der Dynamik, weniger vom komplexen Kontrapunkt her, denn Gesangslinien werden nie vom Orchester verdoppelt.
Allerdings kann Benjamin das Orchester natürlich auch aufbrausen lassen, aber das eigentlich nur in den sechs Interludes. Diese hochdramatischen, aufpeitschenden und stimmungsvollen Zwischenspiele allein lohnen den Besuch der Aufführung, die krassen Wechsel in der Dynamik, von beinahe unhörbaren, filigranen Momenten zu abgründiger Ekstase führen zu unentrinnbaren Gänsehaut-Gefühlen. Sie allein wären es wert, in eine Orchestersuite gefasst zu werden. Und tatsächlich: Als ich auf der Premierenfeier den anwesenden Komponisten darauf ansprach, zeigte er sich hocherfreut über meinen Vorschlag, der allerdings Wasser auf seine Mühle war, denn er befasse sich bereits damit.
Die Philharmonia Zürich brachte diese Musik mit überwältigender Kraft und Souplesse zum Klingen, ließ ungewohnte, aber faszinierende Klangschichten erklingen. Der Dirigent des Abends, Ilan Volkov, lenkte die Ströme in präzise, nie überbordende Bahnen, sorgte für eine atemberaubende Transparenz, die das Ohr zwar forderte, aber nie überforderte, ließ die 90 Minuten ununterbrochene Spieldauer wie im Flug vorbeigehen.
Eigentlich hat nur die Partie der Königin Isabel so etwas wie ariose Momente in einem ausgedehnten Tonumfang, findet zu – seltenen, aber eindrucksvollen – Fiorituren (Szene mit der Perle). Jeanine de Bique erfüllt die Partie mit ihrem farbenreichen Sopran aufs Allerschönste, lotet durch ihren Gesang und ihre intensive Darstellungskraft die wenigen einnehmenden und die vielen abgründigen Facetten des komplexen Charakters aus. Hervorzuheben ist, dass George Benjamin für die Sänger keine hysterischen Zickzacklinien mit hässlichen, unmotivierten Intervallsprüngen schreibt. Dieser gepflegte, leicht monoton in einem eng umfassten Tonbereich angesiedelte Gesang tritt vor allem bei den vier männlichen Protagonisten – König, Gaveston, Mortimer, Junge – auf und kommt ab und an etwas gar leidenschaftslos daher. Lang gezogene Noten, wenig wahrnehmbare Rhythmen, sehr nahe am Deklamieren. Da hätte man sich vom Komponisten etwas mehr an leidenschaftlichem Ausdruck gewünscht. Der Vorteil ist natürlich, dass das Gesamtklangbild sehr transparent bleibt, auch wenn viele Personen gleichzeitig wie in einem Concertato singen. Dadurch kann man auch dem intelligenten, ab und an etwas zu kopflastigen Text von Martin Crimp ausgezeichnet folgen.
Ivan Ludlow zeigt die Gebrochenheit des Königs mit wunderbar warmem Bariton – er ist erst wenige Tage vor der Premiere in die Produktion eingestiegen, da Lauri Vasar erkrankt war, trotzdem hatte man das Gefühl, die Rolle des schwulen Königs sei ihm auf den Leib geschrieben worden. Björn Bürger als sein Geliebter Gaveston verströmte nicht nur optischen, sondern auch stimmlichen Sex-Appeal. Sein etwas heller timbrierter Bariton, dem George Benjamin einen etwas weiteren Tonumfang komponiert hatte als für den König, führt in den Szenen mit dem König von Ivan Ludlow zu reizvollen klanglichen Verschmelzungen.
Björn Bürgers u.a. von der Flöte exquisit begleiteter Monolog Here – look – is my baby king in der Szene III war fantastisch gestaltet, mit kontrollierten Ausflügen in die Kopfstimme. Der Gegenspieler des männlichen Liebespaars ist Mortimer. Mark Milhofer singt ihn mit heller, aber nie hysterisch schrill klingender Tenorstimme, ein wunderbar differenziert gestaltetes Porträt des komplizierten Charakters, das wie alle anderen Charaktere vom Regisseur Evgeny Titov sehr subtil herausgearbeitet worden war (mehr dazu im nächsten Abschnitt). Milhofer hat auch einen der wenigen vokalen Ausbrüche zu singen: Sein hasserfüllter Aufruf an die Zeugen im Bild VI Write – write this down – that lechery – that sodomy – have decayed his mind geht wahrlich unter die Haut. Solche Passagen auf der vokalen Seite der Partitur hätte man sich noch vermehrt gewünscht.
Der zweite Tenor, der Junge und Thronfolger, wird mit sehr schöner Stimmführung von Sunnyboy Dladla gestaltet. Er versteht es wunderbar, seine Grausamkeit, die er in den vorangehenden „Lessons in love and violence“ kapiert hat, in seinem naiven Tonfall so zu verbergen, dass diese Grausamkeit am Ende umso brutaler zuschlägt. Isabelle Haile und Josy Santos bereichern das Ensemble als Zeuginnen und Frauen und als Sängerinnen zur Pantomime von Jonathan, David und Saul – Ihre hoch interessanten stimmlichen Schattierungen lassen aufhorchen. Andrew Moore hat zwei starke Auftritte, zuerst als Zeuge 3 und dann als Verrückter, der vom Jungen auf Anweisung Mortimers getötet werden soll. Der Junge hat seine Lektionen zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht vollständig gelernt, also übernimmt die Tötungsmaschine Mortimer dessen Erdrosselung.
Evgeny Titov hat mit seiner ersten Regiearbeit für das Opernhaus Zürich eine restlos begeisternde und mit fantastischer Genauigkeit die seelischen Abgründe der Personen auslotende Inszenierung geschaffen. Im smaragdgrünen – im Libretto kommen Smaragde vor in Gavestons Monolog: His rattle is a box of emeralds. Der leicht an barocke Fassaden erinnernden Einheitsraum, den Rufus Didwiszus entworfen hatte, entfesselt Titov ein spannungsgeladenes, intensives und unter die Haut gehendes Drama um Liebe und Gewalt. Jeder Figur lässt Titov ein genau gezeichnetes Profil angedeihen. Die Zwiespälte der Königin zwischen Macht und Liebe, die sich näher bei ihrem Mann fühlt, wenn sie während der Theateraufführung neben dem Geliebten des Mannes sitzt, als wenn sie direkt neben ihrem Gatten sitzen würde, werden bis in kleinste Gesten herausgearbeitet, und Jeanine de Bique setzt dies alles bestechend um.
Die wunderschönen, stimmigen haute Couture Kleider, welche Falk Bauer für sie entworfen hatte, unterstreichen die Persönlichkeit Isabels. Auch Gaveston wird als vielschichtiger Charakter gezeigt: Zu Beginn ist er die männliche, gekonnt mit seinen Reizen spielende, sexbesessene Schlampe, bei der Theateraufführung neigt er dann eher zur androgynen Ledertunte, wird philosophisch und kehrt dann in Szene VI als rätselhafter Fremder zum König Edward II. ins Gefängnis zurück. Björn Bürger schlüpft mit bewundernswerter Selbstverständlichkeit in die Rolle Gavestons. Mortimer tritt als biederer Mann auf, mit Brille und etwas zu weit geschnittenem Doppelreiher. Evgeny Titov zeigt eindringlich, wie sich Mortimer zur hasserfüllten Mordmaschine wandelt: Gaveston weckt in Mortimer nämlich verdrängte und unterdrückte homosexuellen Begierden; bereits, bevor die Musik einsetzt, entflieht Mortimer mit erstickten Schreien und Schnappatmung dem angedeuteten Liebesspiel Gavestons und des Königs unter der Bettdecke. Später drückt Gaveston dann auch noch Mortimers Kopf in seinen Schoss, was Mortimer endgültig zum Negierer jeglicher Liebe treibt.
Mark Milhofer ist phänomenal als Biedermannn und Brandstifter. Den König zeichnet Titov als von inneren Zwängen zerfressenen Mann, die Liebe zu Gaveston und zu allem Schönen ist ihm das Wichtigste: Love makes us human, singt er schon in der ersten Szene. Schließlich zerbricht er am Anspruch des Regierens, fällt politische Fehlentscheidungen, sein Gegner Mortimer nutzt das gnadenlos aus. Ivan Ludlow hat sich der Figur einfühlsam angenähert – es gibt tatsächlich Momente, wo man Mitleid mit dem König hat und sich ein Happyend für das gutaussehende männliche Liebespaar wünscht. Doch dem ist nicht so. Titov scheut sich auch nicht, krasse Szenen zu zeigen. So zum Beispiel die Zeugin in Szene zwei, welche die Überreste ihres verbrannten Kindes der Königin vor die Füße wirft, während auf der gedeckten Tafel ein Oktopus darauf wartet, verspeist zu werden.
Oder die mit aller Brutalität dargestellte Ermordung des Verrückten durch Mortimer, der dann im letzten Bild selbst mit ausgestochenen Augen und von Folter gebrochen auf die Bühne kriecht. Die smaragdgrüne Bühne wird auf faszinierende Art ausgeleuchtet (Martin Gebhardt, Video: Tieni Burkhalter), das ist technisch dermaßen raffiniert gemacht, dass man glaubt, die Fassade bewege sich Das in sieben prägnanten Szenen packend ablaufende Drama kommt mit wenigen Requisiten und Möbeln aus: Ein großes Bett mit schwarz-seidenem Überwurf, Tribünen und Vorhang für die Theaterszene, der erwähnte Esstisch mit dem Oktopus, arenaartige Bestuhlung für das Ende. Ja dieses Ende hat es in sich: Während des ganzen Abends begleitete eine „weiße“ Dame, bleich und mit mystischer Präsenz dargestellt von Nini Vlatković, die familiären Szenen. Wenn dann der Junge am Ende König ist und verkündet: With a scene then of a human being broken and broken by rational application of human justice our entertainment begins beginnt sich die Frau vollkommen zu entkleiden. Man denkt: „Muss das nun wirklich auch noch sein?“ Glauben Sie mir, verehrte Leserschaft: ES MUSS! Mehr sei an dieser Stelle über diesen veritablen Coup de Théâtre, der Evgeny Titov hier gelungen ist, nicht verraten. Hingehen!
Kleine persönliche Anmerkung:
Ein Jahr vor der Uraufführung dieses Werkes kam an der Deutschen Oper Berlin die Oper „Edwards II.“ des Schweizer Komponisten Andrea Lorenzo Scartazzini zur begeistert aufgenommenen Uraufführung. Die beiden Komponisten haben also praktisch gleichzeitig am Thema des schwulen Königs Edward II. gearbeitet. Wohlverstanden, beide Werke sind tolles zeitgenössisches Musiktheater. Als mit Schweizer Steuergeldern hoch subventioniertes Haus hätte man vielleicht auch die Unterstützung einheimischen Schaffens in Betracht ziehen können – oder besser noch: Das eine tun und das andere nicht lassen. Gerade die Gegenüberstellung der beiden Opern, z.B. in aufeinanderfolgenden Spielzeiten, wäre doch spannend und wertvoll gewesen.
Kaspar Sannemann, 23. Mai 2023
„Lessons in Love and Violence“
George Benjamin
Opernhaus Zürich
21. Mai 2023
Regisseur: Evgeny Titov
Dirigat: Ilan Volkov
Philharmonia Zürich