Fetziges, Stimmungsvolles, Begeisterndes und Überladenes
Nach der durch Corona bedingten Absage des Musikfestes im letzen Jahr startet man in diesem Jahr nun wieder voll durch, auch wenn es mit einigen Beschränkungen verbunden ist: Es sind nur ungefähr die Hälfte der Zuschauer zugelassen, die 3G-Regel wird mit Impfpass, Registrierung und Personalausweis streng kontrolliert und man muss auch während der Konzerte eine Maske tragen. Das Programm bietet insgesamt – wie gewohnt – hochkarätig besetzte Konzerte an. Am Eröffnungsabend, der „Grossen Nachtmusik“, hatte man die Wahl zwischen achtzehn Aufführungen.
Fabio Biondi und sein Orchester Europa Galante sollten eigentlich im Innenhof der Alten Post auftreten.
Das wäre für das Musikfest ein neu hinzugekommener Spielort gewesen, aber wegen des regnerischen Wetters wich man in den Kleinen Saal der Glocke aus. Mit Mozarts Eine kleine Nachtmusik stand eines der populärsten und bekanntesten Werke auf dem Programm, das von Biondi und seinen dreizehn Musikern aber mit soviel Energie, mit vielen dynamischen Abstufungen, mit kraftvollen Akzenten und homogenem Klang serviert wurde, dass man es fast neu entdeckte. Es folgten die drei Divertimenti KV 136-138. Auch hier war die hohe Spielkultur der Streicher zu bewundern. Biondis Sinn für die individuelle Gestaltung jedes einzelnen Satzes konnte begeistern. Bei den Divertimenti KV 136 und KV 138 betonte er die Kontraste zwischen den drangvollen Ecksätzen und dem „singenden“ Andante optimal. Das Divertimento KV 137 unterscheidet sich im Aufbau von den beiden anderen: Hier steht ein träumerisches Andante am Beginn, dann erst folgen die lebhaften Allegro-Sätze, die mit Schwung und großer Spielfreude ausgeführt wurden. Eine Stunde Mozart, bei der die Zuhörer bestens unterhalten wurden.
Im Innenhof des Landgerichts gab es ein totales Kontrastprogramm. Angekündigt war ursprünglich das Hypnotic Brass Ensemble („The Bad Boys of Jazz“), gekommen ist die französische Band Electro Deluxe mit ihrem Programm „Apollo“, wie auch ihre neueste CD heißt. Electro Deluxe wurde 2001 gegründet und besteht aus den Musikern Thomas Faure (Saxophon), Alexis Bourgignon (Trompete) Vincent Aubert (Posaune), Arnaud Renaville (Schlagzeug), Jérémie Coke (E-Bass), Gael Cadoux (Keyboard) sowie dem Sänger James Copley. Die besonders in Frankreich sehr erfolgreiche Band verbindet Elemente aus Jazz, Soul und Funk. Vom ersten Moment an fegt ihre Musik wie ein Tornado über die Zuhörer. James Copley fungiert dabei nicht nur als Sänger mit genau der Musik abgelauschten, tänzelnden Bewegungen, sondern auch als „Einheizer“, der das Publikum zum Tanzen und Klatschen animiert. Das war kein Problem, weil die Musik unmittelbar in die Beine geht. Stühle waren da fast überflüssig, denn das gesamte Publikum (im Alter zwischen 30 und 70) verfolgte das Konzert begeistert im Stehen. Und für diese Begeisterung sorgten vor allem die drei phänomenalen Bläser, die mit Soli oder im Ensemble glänzten. Die Songs gingen überwiegend bruchlos ineinander über. Es gab kaum eine Pause, die länger als drei Sekunden dauerte. Sound und Rhythmus waren zwar bei jedem Stück ähnlich, aber derart kraftvoll und mitreißend, dass man ruhigere Phasen, die es nicht gab, kaum vermisste. Eine Stunde, die mit Energie bis zum Anschlag gefüllt war. (28.8.)
Das war eine Premiere für das Musikfest, für das Tabakquartier und für die Bremer Philharmoniker: Mit dem Innenhof zwischen den ehemaligen Fabrikgebäuden der Firma Brinkmann-Tabak konnte das Musikfest eine neue Spielstätte präsentieren. Im Tabakquartier, wo sich ein Zentrum für Wohnen, Arbeiten und Kultur entwickelt, war dies das erste Konzert dieser Art. Und für die Bremer Philharmoniker war es eine besondere Freude gerade hier aufzutreten, weil sie hier in einer ehemaligen Lagerhalle einen Übungssaal mit bis zu 380 Sitzplätzen bekommen. Intendant Christian Kötter-Lixfeld betonte in einer kurzen Ansprache seine Freude und auch die des gesamten Orchesters über diese Dinge. Auch wenn programmbedingt die Bremer Philharmoniker an diesem Abend nur mit dreizehn Bläsern und einem Kontrabassisten vertreten waren, ließ GMD Marko Letonja es sich nicht nehmen, dieses Konzert persönlich zu leiten.
Da gab es zunächst Ausschnitte aus der von Wenzel Sedlák arrangierten Harmoniemusik von Carl Maria von Webers Oper „Der Freischütz“. Die Bläser der Philharmoniker konnten mit höchster Spielkultur und einem variationsreichen Klangbild einen repräsentativen Querschnitt durch die Oper vermitteln. Vom Jägerchor über die Arien von Ännchen und Max bis hin zur düsteren Welt des Kaspar reihte sich ein Höhepunkt an den anderen. Letonja hatte dabei feinste dynamische Abstufungen im Blick und hielt trotz des Potpourri-Charakters die Spannungsbögen.
Mit der Serenade Nr. 10 KV 361 („Gran Partita“) von Wolfgang Amadeus Mozart konnten die Philharmoniker eine geradezu zauberhafte Stimmung beschwören. Das Werk hat sieben Sätze und eine Spieldauer, die jede von Mozarts Symphonien übertrifft. Den Wechsel zwischen langsamen und schnellen Sätzen vollzog Letonja sehr organisch. Da wurden keine extremen Tempi angeschlagen, nichts verhetzt und nichts zerdehnt. Alles fügte sich ausgewogen zu einem harmonischen Ganzen. Auch hier glänzten die Bläser, oft auch solistisch, mit perfekter Phrasierung. Das Glanz- und Herzstück dieser Serenade ist das Adagio, das besonders mit der Oboe wie ein Lied ohne Worte daherkommt und in traumhafter Schönheit erklang. Wollte man den Zauber dieses Serenaden-Abends in nur einem Musikstück komprimieren, dann wäre es dieses Adagio. (1.9.)
Vor genau zwei Jahren gab Diana Damrau ihr Debüt beim Musikfest Bremen, damals mit einem vom Harfenisten Xavier de Maistre begleiteten Liederabend. Nun kehrte sie mit einem reinen Strauss-Programm zurück, diesmal mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen.
Die sorgte allerdings unter Jérémie Rhorer schon gleich zu Beginn für eine Sternstunde: Die Metamorphosen – Studie für 23 Solostreicher ist jenes (1944 entstandene) Spätwerk von Richard Strauss, das den Untertitel „Trauer um München“ trägt und in seiner Art einmalig ist. Besetzt ist es mit zehn Violinen, fünf Bratschen, fünf Violoncelli und drei Kontrabässen. Wie die Kammerphilharmonie das komplexe, polyphone Klanggewebe entwickelte, wie hier mit feinsten dynamischen Abstufungen gearbeitet wurde, wie sich kammermusikalische Passagen mit geradezu rauschhaften Steigerungen abwechselten – das war einfach traumhaft. Rhorer hielt die Musik in einem stetigen Fluss und traf die melancholische Grundstimmung punktgenau, ohne dabei in Düsternis zu verfallen. Die Streicher zauberten mit größter Differenzierung einen geradezu schwelgerischen Klang mit innerer Leuchtkraft. So eindrucksvoll hat man die Metamorphosen selten gehört.
Mit sechs Orchesterliedern von Richard Strauss ging es weiter. Die Stimme von Diana Damrau fühlt sich bei Strauss offenbar besonders wohl. Ihr ausgesprochen warmes und in allen Lagen unverfärbtes Timbre ist mit perfekter Gesangstechnik gepaart. Und ihre Ausdruckskraft, mit der sie bei jedem Lied den emotionalen Gehalt genau trifft, macht ihre Interpretation zum Ereignis. Das Programm mit den Liedern Das Rosenband, Ständchen, Freundliche Vision, Wiegenlied, Allerseelen und Zueignung setzt zwar auf Populäres, ist aber trotzdem klug gewählt, weil sie damit eine große emotionale und gesangliche Spannbreite zeigen kann. Da stehen zärtliche und verhaltene Töne neben jubelnden Aufschwüngen (etwa beim Schluss von „Ständchen“), mit denen sie das Orchester mühelos überstrahlt. Wie sie große Gesangsbögen gestaltet und die Stimme mit großer Leuchtkraft und sicherer Höhe führt, ist einfach beglückend. Jubel ohne Grenzen, auch für die subtil begleitende Kammerphilharmonie – zum Dank gab es das Lied Morgen op.27 Nr.4 als Zugabe.
Die ersten drei Sinfonien von Peter Tschaikowsky tauchen viel seltener in den Konzertprogrammen auf als die letzten drei. Da ist es zu begrüßen, dass Jérémie Rhorer und die Deutsche Kammerphilharmonie sich für die Sinfonie Nr.3 D-Dur op.29 entschieden haben. Sie entstand 1875, also in zeitlicher Nähe zu seinem 1. Klavierkonzert und dem „Schwanensee“. Und sie ist die einzige Sinfonie, die fünf Sätze hat und in einer Dur-Tonart steht. Sie hat den Charakter eine Suite und steht seinen Balletten nahe. Der letzte Satz endet mit einer Polonaise, die ihren Beinamen „Polnische“ begründet. Warum die 3. Sinfonie so sehr im Schatten der „großen“ Sinfonien steht, ist fast nicht zu begreifen, wenn man sie in der Interpretation von Jérémie Rhorer und der Deutschen Kammerphilharmonie hört. Denn Rhorer setzte auf eine teils sehr energisch-dramatische Wiedergabe (in den Ecksätzen), teils auf eine ruhige Entfaltung der Musik (in den Sätzen „Alla tedesca“ und „Andante“). Der Wechsel zwischen dem verhaltenen Trauermarsch im Beginn des 1. Satzes und der dann furiosen Steigerung ist von mitreißender Wirkung. Der 2. Satz bezaubert mit einem leichtfüßigen Walzerthema. Beim 3. Satz mit seinen schwelgerischen Natur- und Vogelstimmen lässt Beethovens „Pastorale“ grüßen. Der letzte Satz wird mit Drive zu majestätischer Pracht geführt. Insgesamt ist es Rhorer mit der Kammerphilharmonie geglückt, die Meriten und die Größe dieser Sinfonie ins rechte Licht zu rücken. (4.9.)
Zu Beginn des Abends Pastoral for the Planet im BLG-Forum sollten sich die Zuhörer eine App auf ihr Smartphone laden, um hinterher über die Frage abzustimmen, ob die Menschen genug zur Rettung des Planeten täten. Das ging unfreiwillig nach hinten los, denn nur sechs Personen hatten teilgenommen und davon stimmten auch noch vier mit einem „Ja“. War wohl nicht im Sinne des Erfinders. Aber solche Spielereien sind im Rahmen eines ambitionierten Konzertabends ohnehin überflüssig. Aber eigentlich war das, was Carlus Padrissa von der spanischen Truppe La Fura dels Baus konzipiert hatte, auch mehr ein Projektabend zum Thema „Klima“. Obwohl es viel und reichlich Musik gab, dominierte aber die Flut der Bilder.
In der Mitte der Bühne steht ein riesiges, immer wieder abgewandeltes Gestell, das eine Mischung aus Turm, Baum, Fabelwesen, Totem und (mit etwas Phantasie) Christus-Gestalt ist. Drei Tänzerinnen und ein Tänzer, die aber eigentlich nur Akrobatisches zu leisten haben, klettern darin und daran herum. Zu Beginn wird der Prometheus-Mythos beschworen. Ein an einer Stange getragener Vogel hackt im Sturzflug auf die Figur ein. Dazu erklingt die Sturm-Einleitung zu Beethovens Die Geschöpfe des Prometheus. Aus dem Maul des Fabelwesens (hier zur Promethea gewandelt) schlüpft zuvor die Menschheit. Während der ganzen Zeit gibt es pausenlos 360°-Projektionen, die wahnsinnig schnellen, bewegten Bildern Krieg, Schrecken und Zerstörung zeigen: Panzer, Bomber, Fässer mit Atommüll, Viren, Feuersbrünste, Stacheldraht, Flüchtlinge, aussterbende Tierarten und vieles mehr. Die Geschichte von Hero und Leander, die beim Versuch zueinander zu kommen beide ertranken, steht für die vielen ertrunkenen Flüchtlinge. Musikalisch wurde das untermalt mit der reizvollen Ouvertüre zu Hero und Leander von Julius Rietz und einem Lied von Fanny Hensel Mendelssohn. Die Odyssee der Flüchtlinge wurde mit dem Allegretto aus der 7. Sinfonie von Beethoven untermalt. Aber ob es die Schlacht-Musik von Weber, ein traditionelles ukrainisches Lied, das Gebet aus Oberon oder ein Lied aus Äquatorial-Guinea war – die Musik wurde zum Beiwerk degradiert. Die Bilder und Aktionen waren einfach „too much“.
Bei der Sinfonie Nr. 6 „Pastorale“ von Beethoven, die komplett gespielt wurde, ging es etwas ruhiger zu, sodass man sich mehr auf die Musik konzentrieren konnte. Hier wurde mit einem Rausch an Farben ein eher friedliches und hoffnungsvolles Bild gezeichnet. Allerdings wurde bei der Szene am Bach von den Akteuren derartig mit Seilen geklappert, dass es wirklich störend war.
Für die musikalische Seite zeichnete das französische Insula Orchestra unter der Leitung der Dirigentin Laurence Equilbey verantwortlich. Es wurde durchweg engagiert musiziert, wenn auch die Pastorale etwas mehr an dynamischer Kontur vertragen hätte. Die Sopranistin Sophie Karthäuser erfüllte ihre Aufgaben sehr ansprechend.
Insgesamt ist Pastoral for the Planet ein interessantes Projekt mit einer ernsten Botschaft. Wenn man aber vor allem wegen der Musik gekommen war, musste man ein paar Abstriche in Kauf nehmen. (5.9.)
Wolfgang Denker, 6.9.2021
Foto Fabio Biondi von James Rajotte
Foto Electro Deluxe von Roch Armando
Foto Bläser der Bremer Philharmoniker von Bremer Philharmoniker
Foto Diana Damrau von Simon Fowler
Foto Jérémie Rhorer von Elodie Crebassa
Foto Pastoral fort the Planet von Marie Guillou und Julien Benhamou