Vorstellung am 11.03.2020
„Ich rieche, rieche Menschenfleisch“
Es ist eine der wunderlichsten Geschichten, die uns die Brüder Grimm in ihrer Sammlung der Hausmärchen überliefern. Im Grund sind es sogar zwei.
Eine arme Frau muss ihr Kind dem König verkaufen, weil sie es nicht ernähren kann. Es handelt es sich aber nicht um ein gewöhnliches Kind, sondern um ein Glückskind, dem geweissagt wurde, dass es mit 14 Jahren die Königstochter heiraten werden. Der hartherzige König setzt das Kind daraufhin dem Tode aus, jedoch wird es von liebenden Menschen gefunden und erzogen. Als der König 14 Jahre später auf diese Menschen trifft, die ihm von dem Findelkind erzählen, erkennt er in dem Jungen den geweissagten Schwiegersohn wieder. Daher schickt er ihn mit einem Brief zum Schloss. Auf dem Weg wird das Glückskind von Räubern überfallen und ausgeraubt. Bestürzt lesen die Räuber den Brief des Königs, den sie bei ihm finden, denn der König verlangt in diesem Schreiben, den Überbringer der Nachricht sofort zu töten. Aus Mitleid verfassen die Räuber ein neues Schreiben, in dem sie den Überbringer als Bräutigam der Prinzessin benennen. Als der König zum Hofe zurückkehrt, jubeln bereits alle dem neuen Brautpaar zu…
Der König, der von seinem scheinbar gegebenen Einverständnis nicht mehr zurück kann, verlangt von Glückskind, ihm erst die drei goldenen Haare des Teufels zu holen. Auf dieser geheimnisvollen Reise muss das Glückskind noch zusätzlich drei Rätselaufgaben lösen: Warum führt der Brunnen weder Wasser noch Wein? Warum trägt der Baum keine goldenen Äpfel mehr? Warum rudert und rudert der Fährmann ohne Ende, anstatt zu seiner Geliebten zu gehen? Mit Hilfe der freundlichen Großmutter des Teufels gelingt es dem Glückskind, alle Rätsel zu lösen. Da er dem König die drei goldenen Haare bringen kann, darf er die Königstochter heiraten. Die Menschen erschlagen die Kröte im Brunnen und töten die Maus an der Wurzel des Baumes, so dass Brunnen und Baum wieder ihre köstlichen Gaben verteilen. Zuletzt gibt der Fährmann seinen Ruderstab an den goldgierigen König weiter, so dass er sich auf die Suche nach seiner Geliebten machen kann. Der König muss jedoch bis ans Ende seiner Tage rudern…
Die Geschichte vom Lauf des Schicksals, bei dem sich das Unglück (Überfall durch die Räuber) später als das größte Glück herausstellt und der sich anschließende mythischen Initiationsweg ist oft unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten gedeutet worden. Aus psychologischer Sicht handelt es sich um einen der interessantesten Texte der Volksmythologie. Um so schöner, dass die Kinder in unserer heutigen Welt, in der Märchen nicht mehr ganz so oft gelesen werden, leicht und spielerisch an diesen Text heran geführt werden.
Die Oper Köln hat eine großartige Erlebnislandschaft geschaffen, die auch für Erwachsene faszinierend ist. Die beiden Zuschauertribühnen stehen sich gegenüber, so dass in der Mitte eine Art Laufsteg entsteht. Hinter den Tribühnen, vor beleuchtbaren Projektionsflächen steht einerseits ein Brunnen und andererseits ein kahler Baum, neben dem auch das Orchester platziert ist. An den Stirnseiten, findet sich zweimal ein riesiges Gemälde, die Toteninsel von Arnold Böcklin darstellend, vor denen trapezförmige Gerüste die Verlagerung der Spielfläche in die Vertikale ermöglichen. Die laufstegartige Mittelkonstruktion dient nicht nur als Spielfläche für die dynamisch-bewegte Handlung, sondern verwandelt sich auch bei Bedarf in den nebelumwogten Fluss, auf dem der Fährmann seine Barke zum Totenreich rudert.
Musikalisch erleben die Kinder in diesem Stück von Stefan Johannes Hanke (* 1984) sehr viele verschiedene Sing- und Spielformen mit kaleidoskopisch veränderten Farben und Klängen. Die kindgerechte Adaption des Stoffes mit seinen Sprechchören, Geräuschen auf den Instrumenten, vielfältig veränderten musikalischen Gesichtern, aus allen Raumecken erklingenden Geräuschen, Klängen, Musiken und Gesang bieten vor dem Hintergrund versteckter Tonalität ein einmaliges Erlebnis, reich an Spannung. Und die Kinder werden auch aktiv in das Geschehen mit einbezogen, wenn sie zum Text von „La lala lala lala!“ und einer leichten Melodie die Großmutter bei ihrem Schlaflied für den bösen Teufel unterstützen sollen. Kinderzauberei, ein herzerwärmendes Luftballon-Ballett, viel Witz und Spannung sorgen für ein turbulentes Bühnengeschehen, wobei besonders die Räuber in ihrer räubertypischen Derbheit („Halt‘s Maul!“) den Kindern sehr viel Freude machen. Der König, der wie Dagobert Duck in Gold badet, des Teufels Großmutter in ihrer großartigen Erscheinung und die Prinzessin in ihrer lieblichen Schönheit sind jedoch alles Nichts gegen die lebensfroh-heitere Figur des Glückskindes, das in seiner Unerschrockenheit einfach so drauflos geht, und sich nicht unterkriegen lässt.
Herzlicher Applaus von den Kindern und deren Begleitern; die für Kinderstücke üblichen „Zugabe!“-Rufe, und zahllose Kinder, die dem Glückskind mal die Hand schütteln wollen. Ein gelungener Ausflug in eine zauberhafte Märchenwelt.
Ingo Hamacher, 12.3.2020
Fotos: © Paul Leclaire