Essen: Sir Antonio Pappano feat. Yuja Wang / Klavier

Orchestra dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia, Leitung: Sir Antonio Pappano

Gioacchino Rossini
Ouvertüre zu „Le siège de Corinthe“

Pjotr I. Tschaikowski
Konzert Nr. 1 b-Moll für Klavier und Orchester, op. 23

Ottorino Respighi
„Fontane di Roma“ & „Pini di Roma“ – Sinfonische Dichtung

Zugaben: Carmen-Variationen für Klavier / Valse Triste / Ouvertüre zu Wilhelm Tell

50 Years ago (Vorwort 1)

Gelegentlich muß auch der Musikkritiker einmal etwas ausholen und darf in diesem Fall ausnahmsweise Privates hinzufügen, denn es war vor 50 Jahren, daß ich zu meinem 14. Geburtstag meine erste klassische Platte geschenkt bekam.

"Pini di Roma" von einem, mir damals völlig unbekannten, Komponisten namens

Ottorino Resphighi. Gewünscht hatte ich mir eigentlich "Deep Purple in Rock". Dieses Album wurde mir dann von meiner Mutter aber in Aussicht gestellt, sollte ich es schaffen diese Klassikscheibe dreimal durchzuhören. Um es gleich vorweg zunehmen, ich habe das Stück, zum Leidwesen unserer Nachbarn, schon im ersten Jahr über 100-mal gehört und wurde zum absoluten Resphighi-Fan.

Was für fantastische Musik, was für eine naturalistisch anmutende Bildmalerei, die wie grandiose Filmmusik auf mich einwirkte; und in der Lautstärke übertraf das Finale meine heißgeliebten Deep Purple noch um einiges. Daß ich es heute – endlich! – zu meinem 64. Geburtstag in einer orchestralen Perfektion und Grandezza Wiederhören durfte, die ich nach langer Musikkritiker-Karriere nun das gestrige Konzert als "wirklich maßstabsetzende Interpretation" bezeichnen würde, gehört zu den ganz großen Glücksfällen im Leben.

50 Years ago (Vorwort 2)

Es gibt allerdings noch einen zweiten Grund, warum ich diese 50 Jahre zurückspringe, denn damals wurde ich zum Jerry-Cotton-Fan. Nein, verehrte Opernfreunde, nicht "de bello Gallico" oder "Faust", sondern die wunderbaren Groschenheftchen verschlang ich zum Leidwesen meiner Deutsch- und Lateinlehrer massenhaft und erweiterte damals meinen Wortschatz, zumindest umgangssprachlich, gewaltig. Warum ich das erzähle, liegt am weiblichen Pianostar des gestrigen Abends, deren fabulöse Piano Forte Bearbeitung und

computerexakte, geradezu zirzensisch anmutende Tastenperfektion mich nicht so beeindruckte (im Gegensatz zum Publikum), wie ihr Kleid. Und da zitiere ich am besten Jerry Cotton, wo sich in Band 102 "Der Satan mischt die Karten" folgender Satz findet:

"Sie trug ein schwarzes, quasi Nichts von rückenfreiem Minikleid zu ihren hochhackigen Kothurnen-Schuhen mit furchteinflößenden Stilettos; ein Kleid, dessen Stoffmenge dem eines Paars edler Damenseidenhandschuhe entnommen sein könnte, und welches mehr zeigte als es verbarg. Ich hätte es, in seiner seidigen Luftigkeit, ohne weiteres in meiner linken Faust locker verbergen können."

Jenes mehr als zarte Persönchen, die das Kleid trug, heißt Yuja Wang. Und ihr gelang das Wunder, daß der Rezensent auch das abgefahrendste Concerto Populare – jenes unvermeidliche Erste Klavierkonzert von Pjotr I. Tschaikowski – welches ich grob geschätzt im letzten halben Jahrhundert gefühlte 34567 Mal hören musste, mit herzattackösem Puls und lebensbedrohlichem Blutdruck nervös auf der Stuhlkante sitzend wahr nahm ohne einzuschlafen. Das heute bei jungen Menschen so populäre Wort "Wow", "geil" oder "Bombe" trifft weder ihre Art zu spielen, noch ihre Optik auch nur ansatzweise… ;-))))

13. Mai 2017 – Today

Wie aus einem Manga entsprungen erscheint die 30-jährige Chinesin Yuja Wang, die eher wirkt wie jene 14-Jährige Cho Cho San, die sich Puccini als Heldin seiner Oper Madama Butterfly eigentlich vorgestellt hatte; nämlich zart und unschuldig wie ein Schmetterling. Geboren in Peking und aufgewachsen in Kanada, gewann Wang schon früh viele Preise und spielte bald mit den besten Orchestern dieser Welt – dabei tauchen in ihrer jungen Biografie nicht nur die "Big Five" Amerikas auf, sondern auch die Top Europeans wie LSO, Concertgebouw, die Berliner wie die Münchner und natürlich das Orchestre de Paris. Wer in solchen Orchestern auftritt, arbeitet – quasi zwangsläufig – mit Größen wie Dutoit, Tilson-Thomas, Abbado oder Dudamel. Im Januar 2009 unterzeichnete Wang einen Vertrag mit der Deutschen Grammophon – mit wem sonst bei dieser Optik… Die daraus folgenden Grammy Awards erwähne ich nur der Vollständigkeit halber.

Natürlich gibt es an ihrer absoluten Perfektion nichts zu kritisieren, eher schon an ihrer musikalischen Tiefe und dem künstlerisch Subkutanen. Aus den Untiefen der russischen Seele kam dieser Tschaikowsky nicht daher, sondern man könnte eher von einem luftig leichten, fast italianita-angehauchten Russen sprechen. Egal wie, was und wo – bar aller Empfindungen des bärbeißigen Kritikers und seiner unentwegten Suche nach musikalischer Tiefe – die Fans waren hypertroph begeistert – auch von den Carmen-Zugaben, die von Tempo und Artistik schon beinah außerirdisch wirkten. Ein weiblicher Paganini auf dem Piano Forte. Dem Einwurf meiner Nachbarin, die abschätzig von "Kunstgewerbe" bei dieser populistischen Zugabe sprach, muß ich mit Händen und Füßen widersprechen. Anzumerken wäre noch, daß die Wangs Fans so begeistert waren, daß man schon nach dem ersten Satz dermaßen applaudierten, als sei das Konzert zu Ende. Und nach dem Ende des dritten Satzes (Anmerkung: dem tatsächlichen ! Ende des Klavierstücks!!) mit multiplen Klatschmärschen – eben jene Zugaben einforderten.

Daß eine dermaßene Fanbegeisterung nun darin münden würde, daß wahre Fans und Musikkenner in hehren Scharen schon in der Pause das tolle Konzert verlassen, und somit den Höhepunkt des Abends, nämlich einen geradezu göttlich gespielten Resphighi verpassten, verwundert den Musikfreund nun doch ein wenig. Na immerhin klatsche fortan niemand mehr in den Sätzen rein…

Sir Antonio Pappano

gehört für mich nicht nur zu den besten, sondern auch sympathischsten Dirigenten unserer Zeit. So nahm er sich die Muße, schon eine halbe Stunde vor offiziellem Beginn des Konzertes, das interessierte Publikum einzuladen und mit Konzertbeispielen selber am Klavier und in accompagnata fünfer tolle Solisten eine quasi Einführung ins Werk des leider nicht nur bei uns viel zu wenig gespielten Genius´ Ottorino Resphighi zu geben.

In charmanten Deutsch erläuterte er im Gespräch mit dem Moderator Christoph Vratz die anstehende Musik. Pappano vermittelte eindrucksvoll und mit plausiblen Musikbeispielen, warum ihm gerade Resphighi so am Herzen liege. "In Italien kennt man kaum sinfonischen Konzerte, da gilt es nur und allein der Oper." Er sprach über Resphighis lautmalerische Nähe zur Natur und Roms im Besonderen. Resphighi als ein "italienischer Debussy", aber immer dem Geist des Spätromantik – sogar eines Strauß´ – verpflichtet; doch hört man aber auch moderne Anklänge eines zurückhaltenden Eklektizismus, wie bei Olivier Messiaen. Mitten im Stück der Fontana di Roma erklingt originaler Nachtigallengesang vom Band. Später spürt man regelrecht die römischen Truppen die Via Appia entlang marschieren. Pappano ist nicht nur ein Maestro seines Faches, sondern man merkt, wie ihm gerade die Vermittlung von Wissen über nicht so Bekanntes eine Herzensangelegenheit ist.

Orchestra dell’ Accademia Nazionale di Santa Cecilia

Wenn das seit über 100 Jahren traditionsreichste erste Orchester Italiens sein einziges (!) Deutschlandkonzert in der Essener Philharmonie gibt, dann ist das an sich schon eine Auszeichnung für das Haus. Wenn man dann mit einer schon ans fast Göttliche heranreichenden Interpretation auch noch einen Rossini und den raren Resphighi dermaßen faszinierend glänzen lässt, dann ist das ein Ereignis. Egal ob wir vom goldenen Blech sprechen, den faszinierend perfekten Holzbläsern oder einem Streicher-Corpus, das uns in seiner Italianita förmlich dahin schmelzen lässt. Hier spielt ein Orchester mit einer Perfektion und einer urtümlichen italienischen römischen Seele, daß es wahrscheinlich sowohl Rossini wie Resphighi im Komponistenhimmel – den es ganz bestimmt gibt 😉 – hat frohlocken lassen. Sie werden gejubelt haben über die Präzision, die feurigen Tempi, die begnadeten Einsätze und das Fließen der Musik in einer Vollendung, die überwältigt. Ein Konzertabend, den man in sein Herz sofort und für immer einschließt, und welcher das Seelenheil, nicht nur des Kritikers, in höchsten Gefilden schweben ließ.

Ein Abend, den man nicht vergessen wird. Die KUNST DES HÖRENS wurde in aller, schon fast himmlischer Perfektion, erlebt. Kann man besser große Musik neu erleben? Nein, daher an alle: mille gratie! 😉 !

(c) yujawang.com / Orchestra Santa Cecilia

Peter Bilsing 14.5.2017

P.S. Hier gibt es eine wunderbare Bebilderung

Interpretation Muti & das Philadelphia Orchestra

Dazu natürlich unser OPERNFREUND Platten Tipp