Auch dieses Jahr ist begleitend zu den Bayreuther Festspielen wieder ein von der Gesellschaft der Freunde von Bayreuth e. V. herausgegebener Almanach erschienen. Wie immer bereitet dieser mit zahlreichen Aufführungsphotos der Festspiele und vielen informativen Texten versehene Band ungetrübte Freude. Man genießt die farbenfrohen Bilder, die einen guten Einblick in die Inszenierung des jeweiligen Wagner-Werkes geben, und freut sich über die aussagekräftigen Texte, die der Almanach enthält. Er ist leicht verständlich geschrieben und inhaltlich sehr abwechslungsreich gestaltet. Die einzelnen Texte lesen sich wie im Fluge.
Am Anfang des Almanachs steht der Artikel Fragmente für Parsifal von Jay Scheib, dem Regisseur der diesjährigen Bayreuther Neuproduktion des Parsifal. Hier erfährt man einiges über die ursprünglich von Festspielleiterin Katharina Wagner ausgegangene Idee, in die Neuinszenierung die erweiterte Realität (augmented reality, kurz AR ) einzubeziehen. Diese Technik hat Scheib gekonnt in seine Produktion integriert. Dafür gäbe es keinen besseren Stoff als den Parsifal, wie er in seinem Essay bemerkt. Auch die AR wird auf diese Weise zu einem Teil des Wagner’schen Gesamtkunstwerkes. Virtualität und Realität werden dergestalt immer weiter miteinander verschmolzen. Im zweiten Artikel erfährt man aus der Feder Klaus Kalchschmids viel über den diesjährigen Parsifal-Dirigenten Pablo Heras-Casado. Zuvorderst auffällig ist der Vergleich, den der Autor zwischen Heras-Casado und Carlos Kleiber zieht. Bemerkenswert ist ferner, dass Heras-Casado zu einem der besten Dirigenten der Jetztzeit avancierte, obwohl er nie ein reguläres Dirigier-Studium absolvierte. Seine Weltkarriere ist ihm zu gönnen. Ebenfalls ausführlich geht Kalchschmid auf den Fakt ein, dass Heras-Casado stets ohne Taktstock dirigiert und seine musikalischen Anweisungen an das jeweilige Orchester immer nur durch reine Körpersprache gibt – ein überzeugendes Faktum. Beeindruckend ist auch die Vielfalt des von ihm dirigierten Repertoires. Neben Wagner stehen da Verdi, Donizetti und moderne Werke. Erwähnenswert erscheint ferner, dass der Dirigent auch die historische Aufführungspraxis pflegt. Wenn man das alles liest, kann man sich des Eindrucks nicht verwehren, dass er seinen guten Ruf in der Musikwelt völlig zu Recht genießt. Ursprünglich für die Partie des Parsifal vorgesehen war Joseph Calleja. Dieser musste seine Mitwirkung indes kurz vor der Premiere absagen und durch Andreas Schager ersetzt werden. Dennoch ist er in dem diesjährigen Almanach vertreten. Aus seinem Interview mit Klaus Kalchschmid ergibt sich, dass er den Parsifal genauso gesungen hätte, wie Wagner es sich vorgestellt hätte, nämlich nach Art des Belcanto eines Bellini.
Ein weiteres Interview führt Klaus Kalchschmid mit Nathalie Stutzmann, der Dirigentin des diesjährigen Tannhäuser. Gekonnt spannt er einen großen Bogen von der Gesangskarriere der ehemaligen Altistin Stutzmann, die im Wagner-Fach nur die Rheingold-Erda sang, bis hin zu ihrer neuen Berufung als Dirigentin. Sie fing das Dirigieren an, als sie sich als Sängerin auf dem Höhepunkt ihrer Karriere befand. In dem Maße wie sie früher gerne Barock-Partien sang, dirigiert sie auch heute gerne alte Musik. Das neue Barock-Orchester Orfeo 55 wurde von ihr gegründet. Auch Mozart gehört zu ihren bevorzugten Komponisten, dessen Don Giovanni und Zauberflöte sie dieses Jahr noch vor Bayreuth an der Metropolitan Opera in New York dirigierte. Und noch einmal Klaus Kalchschmid: Der schier Unermüdliche interviewt den Vulkan-Bariton Olafur Sigurdarson, der in diesem Sommer in Bayreuth als Alberich, Biterolf und Melot zu erleben war. Trefflich kommt hier zum Ausdruck, wie vorteilhaft es für einen Sänger ist, wenn er neben Wagner auch Verdi so phantastisch singen kann wie Sigurdarson. Eine solide italienische Technik ist eben das A und da O jedes guten klassischen Gesangs. Die Arbeit mit Valentin Schwarz beim Ring fand er hervorragend. Das Wichtigste für ihn sei, dass die Atmosphäre bei den Proben konstruktiv und positiv ist, was bei Schwarz der Fall gewesen war. Zu diesem Regisseur hatte der Sänger viel Vertrauen. Auf seiner Wunschliste steht der Walküre-Wotan, der bisher drei Mal durch Corona abgesagt wurde, was Sigurdarson tief bedauert. Ein weiteres Interview führt Jens F. Laurson mit dem Dirigenten Markus Poschner, der dieses Jahr in Bayreuth bereits zum zweiten Mal den Tristan dirigierte, der einer seiner absoluten Lieblingsopern ist. Auch hier geht es indes nicht nur um Tristan und Wagner, sondern auch um reine Konzerte. Eine hier erörterte zentrale Frage besteht darin, wie man mehr Abwechslung im Konzert bekommt. Was den Wagner-Gesang angeht, befürwortet Poschner ebenfalls den Belcanto-Stil. Bei den Belcanto-Sängern lobt er, dass diese unglaublich geeicht darauf seien, zu phrasieren und mit ganz vielen, extremen Farben zu singen. Auch Wagner müsse mit großer Flexibilität und Leichtigkeit gesungen werden.
Interessant zu lesen ist ein Gespräch, das Christa Sigg mit drei Koryphäen der Bühnentechnik führt. Die Angehörigen des Bayreuther technischen Stabes plaudern munter aus dem Nähkästchen über ihre verantwortungsvolle Arbeit und betonen, dass Bayreuth nicht nur für Sänger und Regisseure anders ist, sondern auch für die technische Seite. Hier würde alles individuell gebaut, und das mit einer außergewöhnlichen Hingabe, wie einer von ihnen darlegt. Die Frauenquote bei der Technik wird hier ebenfalls thematisiert. Auch die Bayreuther Bühnentechnik sei keine Männerdomäne mehr. Demgemäß ist unter den hier Interviewten auch eine Frau.
Einen bleibenden Eindruck hinterlässt auch Melissa ChansEssay Der grosse Sprung nach Walhalla. Hier geht es um Wagner in China. Da gibt es einige bemerkenswerte Aussagen: Kunst und Kultur sind in China nie frei vom Einfluss autoritärer Staatspolitik. Oper gilt als schick und prestigeträchtig. Wenn China mächtig, modern und einflussreich geworden ist, dann dürfen auch ihre Kunsttempel und Aufführungen nicht den besten in der Welt nachstehen. Der Ring als warnende Parabel über die Abgründe des Kapitalismus und eines liederlichen Gewinnstrebens passte eigentlich ganz gut in die offizielle chinesische politische Weltanschauung. Inzwischen ist die Sache Wagner in China richtig in Schwung gekommen – und seine Opern sind nun regelmäßiger Bestandteil der Spielpläne der großen Häuser. Vielleicht, weil auch Xi der weitverbreiteten Meinung anhängt, Oper sei manierliche, harmlose Hochkultur.
Der Band fährt fort mit dem hoch spannenden Bericht Wagner, das PR-Genie von Nicholas Vazsonyi über Wagner und Beethovens Neunte Symphonie. Dieses Werk hat im Leben des Bayreuther Meisters stets eine zentrale Rolle eingenommen. Das erste Mal dirigiert hat er es in Dresden beim alljährlichen Palmsonntagsbenefizkonzert am 5. April 1846. Nicht nur musikalisch sorgte Wagner dafür, dass diese Aufführung sich zu einem Riesenerfolg gestaltete. Gekonnt lancierte er vier anonyme Vorankündigungen in der Sektion Besprechungen. Privatsachen des Dresdner Anzeigers. Wie dem Bericht zu entnehmen ist, waren diese vier Mitteilungen hinsichtlich Erscheinungstermin und Abfolge akribisch geplant, um ein Maximum an Aufmerksamkeit und gespannter Erwartung zu erzielen; gleichzeitig sollten sie so viele Informationen wie möglich transportieren. Darüber hinaus verfasste Wagner im Konzertprogramm einen Einführungstext. Er hatte mit seinem Vorgehen Erfolg. Das Konzert war ausverkauft und brachte eine Rekordsumme für den Pensionsfond ein, wie Vazsonyi anerkennend bemerkt. Seit dieser denkwürdigen Aufführung ist Beethovens 9. Symphonie aus dem Konzertleben nicht mehr wegzudenken und hat auch schon Aufführungen bei den Bayreuther Festspielen erlebt.
Der Almanach schließt wie immer mit der Vorstellung von fünf Mitgliedern der Gesellschaft der Freunde von Bayreuth, die auf ganz unterschiedliche Weise den Weg zu Wagner und nach Bayreuth fanden. Insgesamt haben wir es hier mit einer in jeder Beziehung sehr ansprechenden Publikation zu tun, deren Anschaffung durchaus zu empfehlen ist!
Ludwig Steinbach, 31. August 2023
„Almanach 2023“
Jahrbuch der Gesellschaft der Freunde von Bayreuth e. V.
Bayreuth 2023
Best.Nr.: 9 783981 669794
176 Seiten