Als Daniel Barenboim nach langer, krankheitsbedingter Zwangspause im Januar 2023 seinen ersten öffentlichen Auftritt bei einem Konzert der Berliner Philharmoniker absolvierte, war dies ein weithin beachtetes Ereignis. Der Maestro erschien blaß und ausgezehrt, kletterte mühsam auf einen bereitgestellten Hochstuhl, gab den ersten Einsatz, und alle Zerbrechlichkeit war wie weggeblasen. Mit sparsamen Gesten, aber intensiver Mimik musizierte er mit einem Orchester, das ihm mit schon lange so nicht mehr gehörtem weichem, warmem, leuchtendem Klang folgte. Ein halbes Jahr später zeigte sich Barenboim bei den Philharmonikern gesundheitlich gefestigt, wies den angebotenen Stuhl vor dem Pult zurück und dirigierte im Stehen, wieder mit sparsamer Gestik, aber enormer Präsenz. Wieder erzeugte er mit den Musikern einen Klang, der sich in seiner Dichte und seinen gedeckten, dunkel schimmernden Farben in die Tradition eines Wilhelm Furtwängler stellte. César Francks d-Moll-Symphonie erhielt dabei ein Gewicht, das eher nach Bruckner als nach französischer Spätromantik klang.
Man war nun gespannt, ob er diese Linie bei Brahms‘ Violinkonzert und Beethovens Fünfter fortführen und so den denkbar größten Kontrast zu der heute auch bei großen Symphonieorchestern, zumal bei den Berliner Philharmonikern, etablierten historisch informierten Aufführungspraxis setzen würde. Allein, der Maestro mußte krankheitsbedingt absagen. Daniel Harding sprang kurzfristig ein.
Unter seiner Leitung klingen die Philharmoniker nun völlig anders, als dies bei Barenboim zu erwarten gewesen wäre. Dabei läßt auch Harding Beethovens Schlachtroß in großer Besetzung mit immerhin zwölf Ersten Geigen musizieren. Den Unterschied in der Musizierhaltung zu den alten philharmonischen Traditionen des vergangenen Jahrhunderts zeigt bereits ein Vergleich der Spieldauern: Harding benötigt für den Kopfsatz der c-Moll-Symphonie gerade einmal 6 Minuten 50. Barenboim hatte es in seinen Einspielungen mit der Staatskapelle und dem West-Eastern Divan Orchester auf rund acht Minuten gebracht, genauso lange wie der von ihm bewunderte Furtwängler. Gleichwohl klingt die Darbietung der Philharmoniker unter Harding nicht gehetzt. Mit sprechender Phrasierung und messerscharf kalkulierten Akzenten gelingt eine sehr plastische und lebendige Umsetzung der Partitur. Der Klang ist keineswegs in Anlehnung an eine Originalklangästhetik kammermusikalisch ausgedünnt, sondern zeigt sich wie schon in der zur Eröffnung gespielten Ouvertüre zu „Die Zauberharfe“ von Franz Schubert mit geradezu athletischer Muskelkraft. In den Streichern wird das Vibrato differenziert eingesetzt und genau dosiert. Hörner und Trompeten auf modernen Instrumenten schmettern ungefährdet von den Intonations-Tücken ventilloser historischer Vorläufer, lärmen aber nie. Wieland Welzel traktiert die Pauken mit harten Schlägeln und sorgt so für einen federnden rhythmischen Drive, den auch das übrige Orchester aufnimmt. Trotz gewohnt vorzüglicher Soli – bei den Holzbläsern sitzen Albrecht Mayer und Emmanuel Pahud an den Solo-Pulten – scheint diese Beethoven-Interpretation ganz von der Motorik und weniger von der Melodik her gedacht zu sein.
Die große Aufmerksamkeit für die rhythmischen Impulse ist ungewohnterweise schon im ersten Teil des Konzerts beim Schlußsatz des Violinkonzerts zu bemerken. Harding und die Philharmoniker demonstrieren, daß gerade bei Brahms‘ motivischer Arbeit Melodie und Rhythmus von gleichberechtigter Bedeutung sind. Auch hier erweist sich der Klang als kraftvoll, aber differenziert. Die Musiker zeigen sich dabei im Einklang mit der Haltung der Solistin. Lisa Batiashvili präsentiert den Solopart ohne gefühlvolle Klangsoße, geht sparsam und geschmackvoll mit dem Vibrato um, bringt Melos und Klangrede in einen überzeugenden Ausgleich. Der zweite Satz gelingt in geradezu idealer Weise als Dialog von Solopart und Orchester auf Augenhöhe, ohne falsche Sentimentalität eingeleitet von Albrecht Mayer bei der Präsentation des Hauptthemas auf der Oboe.
Was als Reminiszenz an eine vergangene philharmonische Tradition zu erwarten war, hat sich nun unter anderer Leitung als Musterbeispiel dafür erwiesen, wie ein Orchester in großer Besetzung reflektiert und lebendig die symphonischen Schlachtrösser des 19. Jahrhunderts präsentieren kann, ohne historisierende Spezialensembles nachzuahmen und trotzdem den durch sie erlangten Erkenntnisfortschritt fruchtbar zu machen. Für den Zuhörer ist dies ein intelligentes Vergnügen.
Das Orchester geht mit diesem Programm auf Tournee und präsentiert es in seinem traditionellen Europakonzert am 1. Mai in Tsinandali (Georgien). Arte zeigt einen Konzertmitschnitt zeitversetzt um 15.50 Uhr, das ZDF eine leicht gekürzte Fassung am Pfingstmontag, 20. Mai um 11.05 Uhr.
Michael Demel, 27. April 2024
Franz Schubert: Ouvertüre zu „Die Zauberharfe“
Johannes Brahms: Violinkonzert D-Dur op. 77
Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr. 5 c-Moll op. 67
Philharmonie Berlin
Konzert am 26. April 2024
Lisa Batiashvili, Violine
Daniel Harding, Leitung
Berliner Philharmoniker