Berlin: „Le nozze di Figaro“, Wolfgang Amadeus Mozart

Was haben die slawische Nixe Rusalka in der Lindenoper und der spanische Ex-Coiffeur Figaro in der Komischen Oper miteinander gemein? Sie wohnen im Erdgeschoss eines Zweietagenhauses, wobei Rusalka für den scheußlichen Wurm, in den sie sich zum Schluss verwandelt, noch das Kellergeschoss zur Verfügung hat, für Figaro und Susanna nur eine Art Waschküche zur Verfügung steht. Residieren in der Beletage mit Prinz oder Grafenfamilie sozusagen die Geissens des Reality Fernsehens, so hausen unter ihnen die Bewohner der Benzbaracken, nur mit dem Unterschied, dass sie in der Komischen Oper das vom Conte als Liebesnest vorgesehene Kellergemach noch mit vielen anderen Bediensteten teilen müssen, darunter eine alte Frau, die bereits vor der Sinfonia mit Fegen beginnt und sich nur einmal auf der im Schleudergang befindlichen Waschmaschine sitzend etwas Lust verschafft.

© Monika Rittershaus

Jeder Leser der Berliner Morgenpost war vorgewarnt durch ein Interview mit Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner Kirill Serebrennikov, der gnadenlos sein Vorhaben erläutert, die drei Da-Ponte-Opern als mehr oder weniger deutliche Kapitalismuskritik zu inszenieren, der von Klassen orakelt, Rezitative verändert, Musik aus Così fan tutte hinzufügt, Charaktere ohne Gesang zusätzlich über die Bühne toben lässt, den Cherubino in eine weibliche und eine männliche, taube Hälfte aufspaltet, wobei nur die weibliche singen darf und viel Gebärdensprache eingesetzt wird, der die zauberhafte Barbarina abschafft und ihre Arie der Gräfin zuschanzt. Wenn er dann noch verkündet, er versuche „die sexuellen und epochenspezifischen Details zu umgehen“, dann wird dem Opernfreund angst und bange, denn dem Stück wird so aller vorrevolutionärer Elan ausgetrieben, der seinen besonderen Reiz im Vergleich mit antiken, christlichen, heldischen Stoffen ausmacht und ihm Brisanz verleiht: das gerade überwunden geglaubte ius primae noctis, die Möglichkeit, sich unliebsamer Mitmenschen durch die Verpflichtung zum Militär zu entledigen, Heiraten durch Schuldscheine zu erzwingen. Die unendliche Vielfalt, die unterschiedliche Epochen und geographische Zonen an Konfliktpotentialen, aber auch an Architektur oder Kostümen bieten, auch wenn durch die europäische Brille gesehen, wird einmal mehr aufgegeben zugunsten einer zeigefingerbewaffneten Uniformität, einer Austauschbarkeit zwischen der Optik einer Figaro- oder einer Ringproduktion.

© Monika Rittershaus

Tröstlich ist immerhin, dass auch in der Welt der Oper oft nichts so heiß gegessen wie gekocht wird, d.h., die Realität auf der Bühne sich oft angenehm weit von den angekündigten Schrecknissen entfernt. Das ist an diesem Abend allerdings nicht der Fall. Der als „Scherge“ des Grafen auf dem Besetzungszettel angekündigte Nikita Kukushkin ist zwar ein toller Akrobat, nervt aber durch ständige, oft in die Arien hineinplatzende Anwesenheit, der taubstumme, aber ebenfalls sportlich begabte Cherubino von Gregory Kudrenko lenkt die Aufmerksamkeit von den Arien der Cherubina Susan Zarrabi ab (nie wurde weniger nach den beiden Arien geklatscht), „alte Frau“ und „junger Mann“ sind in diesem Stück so überflüssig wie ein Kropf. Ebenfalls gern verzichten würde man auf Slogans wie „Capitalism kills love“, „dove sono“ oder „festa follia“, auf Unmengen von Whats-App-Nachrichten, auf unverständliche Vorlesungen und Schriftbänder mit kultur- und gesellschaftskritischen Anklagen sowie einen Hochzeitstanz, der im Abmurksen der Damen besteht und mit deren allerdings nur vorübergehendem Tod endet. Wenn aber jeder Opernfreund darauf wartet, dass der Conte sein „Contessa perdona“ anhebt und dann noch wegen zwischengeschobener Musik mit seinem Einsatz warten muss, dann ist das ebenso ärgerlich wie ein gänzlich unpassendes „Soave sia il vento“, wie Störgeräusche und Fallsucht in der ersten Arie der Contessa oder das Einsparen des Chors und der unmotivierte Einsatz von psychedelischen Effekten.

© Monika Rittershaus

Es wäre verwunderlich, wenn mit einer solchen Optik ein akustisches Erlebnis der allerfeinsten Art einher gehen würde. Dirigent James Gaffigan sorgt für einen eher robusten, zügigen, aber durchaus den Sängern zugewandten Klang im Orchestergraben und versucht mit Erfolg, den Stellenwert des Hörerlebnisses gegenüber der überbordenden Optik durchzusetzen. Tommaso Barea ist ein attraktiver Figaro mit tiefdunklem Bass, der besonders in seiner letzten Arie über die Verruchtheit der Frauen zur Geltung kommt. Als Graf Almaviva kann Hubert Zapiór mit geschmeidigem Bariton punkten. Einen herben, frischen Sopran setzt Penny Sofroniadou für die Susanna ein, deren Rosenarie sie zum Glück ungestört singen und damit punkten darf. Gleich drei Arien singt Nadja Mchantaf als Contessa, denn die der Barberina wurde ihr auch zuteil und erfreut durch die sanfte, schimmernde Sopranstimme, die sie dafür einsetzen kann. Einiges von der Wirkung, die „Voi che sapete“ auf das Publikum haben kann, wird Susan Zarabi durch die Regie verwehrt, auch wenn der Nackedei, der ihr männliches Gegenstück darstellte, sich erst danach aus dem Fenster stürzte. Einen reifen Mezzosopran setzt Karolina Gumos für die attraktive Marcellina ein, auch Don Bartolo (Tijl Faveyts) und Don Basilio (Johannes Dunz) dürfen ihre oft gestrichenen Arien singen und können damit gefallen, Peter Lobert als Antonio imponiert durch Gestalt und Stimme.

© Monika Rittershaus

In der nächsten Saison gibt es als letzte Da-Ponte-Oper Don Giovanni mit Kirill Serebrennikovs Regie im Schillertheater. Bei einem so verdienstvollen Haus wie der Komischen Oper tut es einem leid, wenn man sich nicht darauf freuen kann.

Ingrid Wanja, 28. April 2024


Le nozze di Figaro
Wolfgang Amadeus Mozart

Komische Oper Berlin

Besuchte Premiere am 27. April 2024

Inszenierung: Kirill Serebrennikov
Musikalische Leitung: James Gaffigan
Orchester der Komischen Oper Berlin