Wassernotstand auf Ellis Island
Längst von einem German zu einem European Trash ausgewachsen hat sich das Bemühen von Regisseurinnen und Regisseuren, einem Stück unter Missachtung des Willens von Librettist und Komponist den eigenen Stempel aufzudrücken, wobei es immerhin am ehesten noch hinnehmbar ist, wenn nur die Handlungszeit oder der Handlungsort oder auch beide verändert werden. So geschehen in Barcelona im Jahre 2018, als Davide Livermore gemeinsam mit seinem Bühnenbildner Giò Forma Puccinis Manon Lescaut aus der Kutschen- und Segelschiffzeit in die der Eisenbahn und des Dampfschiffs verlegte und dazu Riesengefährte auf der Bühne des Gran Teatro del Liceu auffahren ließ. Die Notwendigkeit dieses Wandels erschließt sich nur schwer, als ganz unmöglich erweist sich jedoch die Verlegung des zweiten Akts aus dem Boudoir im Palast Gerontes in ein Bordell, in dem die reife Sängerin der Titelpartie umgeben ist von einer Schar blutjunger, zarter und wunderhübscher Kolleginnen, die sie wie eine Puffmutter wirken lassen, und der letzte Akt in einem Schlafsaal auf Ellis Islands spielt, wo sich die Auswanderer nicht vom leidenschaftlichen Schlussduett oder der Arie Manons, die alles andere als „sola, perduta, abbandonata“ ist, in ihrem Schlaf stören lassen, das Beschaffen von Wasser eigentlich auch kein Problem sein dürfte. Der Autor des Romans um Des Grieux und Manon Lescaut, der Abbé Prévost, durchlebte als junger Mann eine heftige Affäre mit einer Haager Prostituierten, was wohl die Anregung zu dieser Idee gab. Der Grieux der Aufführung ist Gregory Kunde, einst ein vorzüglicher Rossinisänger, inzwischen bereits im Rentenalter, welches Problem die Regie damit zu lösen versucht, dass sie ihm ein alter ego in Gestalt eines würdigen Greises an die Seite stellt, neben dem er recht jugendlich aussieht und der von Anfang an durch Mimik und Gestik zu erkennen gibt, dass das Ganze nicht gut ausgehen kann, auch weil er bereits vor Beginn des Stücks hart von der amerikanischen Polizei bedrängt wird, offensichtlich nicht nach Frankreich zurückkehren konnte. So ist in der Inszenierung nicht die Wüste das Problem, sondern das Meer, das vor Beginn und Nach Schluss bedrohliche Wogen von der Videowand, über die auch Auswanderer aller Arten hin- und hermarschieren, schwappen lässt.
Die Sänger der beiden Hauptpartien sind gestandene Vertreter ihres Fachs, aber sie passen vokal leider nicht zusammen. Der Tenor verfügt noch über beachtliche, aber nicht Puccini angemessene stimmliche Mittel, das Timbre ist zu hell, die Stimme zu trocken, für „A voi belle“ fehlt die Geschmeidigkeit, für den zweiten Akt das dunkle Lodern eines lirico spinto, insgesamt eine sehr musikalische Darbietung, aber nicht die einer Puccinistimme. Der Sopran von Liudmyla Monastyrska hingegen blüht und leuchtet, hat das nötige Quäntchen Melancholie für „in queste trine“, nur selten wünscht man sich weniger Stahl und mehr dolcezza. Einen soliden Bariton setzt David Bižić für den Lescaut ein, Carlos Chausson ist als Geronte ein wirklich hinfälliges Altchen, das es aber noch mit mehreren Damen aus dem Puff gleichzeitig aufnimmt. Wieselig in der Darstellung und präsent im Akustischen ist der Edmondo von Mikeldi Atxalandabaso, fast unter in der üppigen Optik geht der Auftritt von Carol Garcia als Madrigalsänger, angenehm klingt der Lampenanzünder von Jordi Casanova. Albert Muntanyola sieht aus wie Placido Domingo, ist aber der alte Des Grieux. Höchst temperamentvoll nimmt der Chor seine Aufgaben wahr, Emmanuel Villaume unternimmt mit dem Orchester die Reise nach Le Havre erst nach der Einschiffung alldort, ist aber ein zuverlässiger Reisebegleiter.
Ingrid Wanja, 17. Juni 2024
Manon Lescaut
Giacomo Puccini
Regie: Davide Livermore
Musikalische Leitung: Emmanuel Villaume
Orchester und Chor des Liceu Barcelona
Major 766404