Im Grunde ist alles Begegnung: mit dem / den Anderen – und mit sich selbst.
Wenn junge Choreographinnen und Choreographen neue Arbeiten vorstellen, hat’s eine andere Wertigkeit, als wenn ein „alter Hase“ sich an die Arbeit macht, was weniger mit irgendeiner Qualität (doch, auch mit der, aber sie ist kaum messbar) als mit der Art und Weise zu tun hat, wie sich die Nachwuchschoreographen die Tanzwelt zurechtrücken. Exquisite Corpse, so heißt das Format, in dem die Nürnberger Tänzer aus der Compagnie Goyo Monteros kurze, nicht länger als zehn Minuten dauernde Produktionen erstellen konnten. Mit der 6. Nummer ist man nun zum Schluss gekommen; Montero wird nach der nächsten Spielzeit das Haus verlassen, vorher dürfen sich nochmal die Jungen ausprobieren.
Le cadavre exquis boira le vin nouveau, „Der köstliche Leichnam trinkt den neuen Wein“, so beginnt das surrealistische Zeichenspiel, mit dem André Breton 1925 ein neues jeux erfand. Auch bei Exquisite Corpse folgen die Einzelteile relativ unverbunden aufeinander, aber zusammen ergibt das – es kann nicht anders sein – einen geradezu dialektischen Zusammenhang. Wie gesagt: im Zeichen der Begegnung. Da treffen sieben „Dämonen“ aufeinander (Serena Landriels Polan), da läuft jemand auf dem Weg der „Selbstfindung“ durchs Bühnenleben (Andy Fernández’ Monkey feel monkey do). Da begegnen sich einige Leute auf dem Weg ins Neue (Òscar Alonsos New Beginning), da trifft Eine auf Zwei (Tres atos por acaso von Lucas Axel). „Fühlt es sich anders an, weil sich die Umgebung verändert hat, oder bin ich derjenige, der sich verändert hat?“, fragt Jay Aries (You were as it was). Jaime Segura lässt einige sehr lustige Menschen zusammen ein Fest, das Fest des Lebens, feiern (Cuchibiri), Stella Tozzi „setzt sich mit ihrer eigenen Non-Binarität auseinander“ (Iel), zwei Männer umschwärmen einander (Luca Brancas Before they claim my love), bevor Carlos Blanco in Silent tears ein sich streitendes und liebendes Pärchen auf die Bühne bringt. Edward Nunes erzählt sein bisheriges Leben in einem abstrahierenden Zeitraffer (Óbice), und Alisa Uzunova zeigt in Sat Nam („Die Wahrheit ist mein Name“) eine weibliche Gruppe als Ausdruck femininer Urkraft. Zuletzt wird in Mikhael Kinley-Safronoffs Swarm Intelligence eine Gruppe gebildet: im „Widerspruch zwischen System und Individuum“.
Man merkt ein bisschen, dass die Choreographen aus der Schule Goyo Monteros kommen, wenn das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv ausgelotet wird: am deutlichsten bei Òscar Alonso, der bereits seit der 2. Spielzeit (!) in der Compagnie tanzt. Die Gruppe bestimmt in New Beginning gegen den Einzelnen das Bild, aber eingelegt ist ein wunderbarer pas de deux, bevor das Kollektiv sich öffnet. Ein kraftvoller, gelind (!) spanisch-folkloristischer pas de trois entsteht bei Lucas Axel, nachdem Landriel mit Polan ein kleines, an Johann Kresniks Körpertheater erinnerndes Drama getanzt hat: Hamlet im (total vernebelten) Irrenhaus. Die Begegnung zwischen den vier Menschen in Aries’ You were as it was ist zunächst pur ästhetisch, dann eher hysterisch, wozu auch die beiden denkbar unterschiedlichen Musikstücke beitragen – hier „Romantik“, dort elektrisch. Lustvoll ist, kurz vor der Pause, Seguras Rumba-fiesta, sehr ernst dann, nach der Pause, Tozzis Iel. Das Verhältnis zwischen Mann und Frau ist, in Blancos Silent tears, ausgesprochen schwierig (die Frau, die da kraftvoll singend am Mikro steht, hat es mit dem dominanten wie unsicheren Mann zu tun; ein Befreiungsakt scheint nicht zu gelingen), die Selbstbegegnungen sind mal rappelkurz und zackig (bei Nunes), mal, bei Fernández, hiphop-inspiriert verspielt.
Zusammen ergibt die Schau ein Panorama von Haltungen, Gesten, Spielen und Sprachen, die kaum auf einen Nenner zu bringen sind, aber vom Innersten der tanzenden Choreographinnen und Choreographen zu erzählen scheinen: meist mit neuer, kaum mit älterer Musik; die ernste Gambenmusik eines Saint Colombe, zu der Tozzis Gestalten sehr ernst tanzen, markiert da schon eine Ausnahme.
Riesenbeifall nach jedem einzelnen Teil, Riesenbeifall nach der Demonstration des „neuen Weins“.
Frank Piontek, 12. Juli 2024
Exquisite Corpse VI
Junge Choreographen des Staatstheaters Nürnberg Ballett
Staatstheater Nürnberg
Premiere am 22. Juni 2024
Besuchte Aufführung: 11. Juli 2024