Wer sich in Bayreuth vor einer Vorstellung charmant, humorvoll und kenntnisreich Zugang zu einer der Wagner-Opern verschaffen möchte, ist bei Hans Martin Gräbner an der richtigen Stelle. Der sympathische Musikwissenschaftler und Komponist ist in der oberfränkischen Wagner-Metropole eine echte Instanz, denn jeden Tag um 11 Uhr vor einer Aufführung im Festspielhaus führt er im Rokoko-Saal des Steingraeber & Söhne-Haus (Friedrichstr. 2, 95444 Bayreuth) in das jeweilige Werk ein.
Was seine Einführungen von den anderen unterscheidet, ist die Mischung aus dem Vortagstext, seinem Klavierspiel auf dem Liszt-Flügel und dem tenoralen bis baritonalen Gesang, denn Gräbner ist ein veritables Multitalent. Auch Wagner-Kenner werden stets neue Details erfahren und sich an Gräbners launigem Vortrag erfreuen. Wer sich als Hügel-Neuling mit einer oder mehreren Opern vertraut machen will, lernt Handlung, Hintergründe und natürlich die musikalische Struktur mit all den Leitmotiven und Besonderheiten der Partitur kennen.
Weniger bekannt ist Gräbners eigenes Oeuvre, das aber ungemein vielfältig ist. Es gibt 13 Bühnenwerke, Kammer- und Bläsermusik sowie fünf Liederzyklen. Drei davon sind auf der 2015 erschienenen CD „Solang du lebest, ist es Tag“ mit dem Untertitel „New songs from old poetry“ zusammengefaßt. Teils sind die Titel der insgesamt 24 Lieder aus der Musikliteratur wohlbekannt: „Mondnacht“ und „Er ist´s“ – klar, das kennt man von Robert Schumann bzw. auch Hugo Wolf, „Wandrers Nachtlied“ hat ja Schubert vertont – was wäre dem noch hinzuzufügen?
Der Hintergrund ist ein ganz anderer: Gräbner hat sich mit möglichster Unvoreingenommenheit der Vertonung dieser Gedichte angenommen, wobei die CD in drei Blöcke gegliedert ist. Der erste, namengebende „Solang du lebest, ist es Tag“, beruht auf einer sehr speziellen Zusammenstellung, gleichsam einer privaten Kanonisierung, denn es sind zwölf romantische Liebesgedichte aus der Sammlung einer Freundin, die ihn auch um die Vertonung bat. Die Verse von Goethe, Mörike, Eichendorff, Storm und Hebbel hat Gräbner völlig neu vertont, mit eigener musikalischer Sprache, die ganz andere Wege geht als die Vorgänger aus dem 19. Jahrhundert sie beschritten hatten.
Drei Petrarca-Sonette mit Gedichten aus den „Canzoniere“ des berühmten Renaissance-Poeten bilden die zweite Abteilung; sie entsprangen der Italien-Leidenschaft Gräbners und der Beschäftigung mit den Liszt´schen Sonett-Liedern.
„Drei mal Drei Lieder“ heißt der dritte Block, dem Texte von Heine, Goethe und Tucholsky zugrunde liegen. Programmatisch sind sie auch deswegen interessant, weil hier freimaurerische Werte und zentrale philosophische Fragen im Mittelpunkt stehen.
Gesungen werden all diese Lieder von der Sopranistin und Gesangspädagogin Gesche Geier, Partnerin in jeder Hinsicht, wie Gräbner selbst sagt. Die gebürtige Rostockerin sang schon an vielen namhaften internationalen Bühnen in zahlreichen, sehr unterschiedlichen Rollen vom Barock bis in die Moderne; gemeinsam mit Gräbner entwickelte sie unterschiedliche konzeptionelle Liedprogramme, wobei die vorliegende CD das Debüt-Album der beiden war.
Fast unnötig zu sagen, daß Gräbner selbst am Flügel sitzt, während er seine sehr eigene Tonsprache intoniert. Die basiert zwar auf einem an die Spätromantik bis Expressionismus erinnernden Duktus, aber er begegnet einer möglichen Rückwärtsgewandtheit durch reizvolle Brechungen, die mit dem Atonalen zwar spielen, aber stets eingängig bleiben. Dodekaphonische Anklänge verleihen den Melodien mitunter eine feinherbe Note, aber die musikalischen Linien bleiben stets am Text und umschmiegen die Verse. Gräbner ist eben mit Leib und Seele Opern- und Liedkenner und weiß, wie man eine motivische Dichte von Wort und Klang erzeugt.
Gesche Geier singt die gesanglich teils sehr anspruchsvollen Melodien bzw. freien Tonfolgen mit zuweilen halsbrecherischen Intervallen souverän und meidet jegliches romantisierendes Pathos. Ihr Sopran ist hell und gerade in den Höhen von kristallener Klarheit; auf eine deutliche Textwiedergabe legt sie besonderen Wert.
So hat man diese Gedichte tatsächlich noch nicht wahrgenommen und diese sehr eigene Interpretation und die musikalische Wege-Führung vom Romantischen ins Existentiell-Philosophische ist ausgesprochen anziehend, individuell und neuartig.
Ein CD-Fundstück, das denjenigen, die den Musikwissenschaftler aus seinen Bayreuther Einführungen kennen, einmal den Komponisten Hans Martin Gräbner nahebringt.
Andreas Ströbl, 20. August 2024
CD erschienen bei TYXart, Best.-Nr. TXA15053