Was ist, wenn auf der Bühne eine Oper von Vivaldi stattfindet und zwei Plätze neben einem sitzt Donna Leon?
Antwort: Bayreuth Baroque. Nur, dass im fünften Jahr des international ausstrahlenden Festivals, das die französischen, italienischen, spanischen Besucher in Scharen in die „Wagner-Stadt“, oder anders: in die Stadt des Welterbes Markgräfliches Opernhaus, treibt, zum ersten Mal eine Oper des venezianischen Komponisten und diesmal kein Händel (dem die bekannte Barockopernliebhaberin sogar ein Buch gewidmet hat) auf dem Programm steht. Zuletzt war hier, vor gut 20 Jahren, beim Festival Bayreuther Barock die Fida Ninfa zu erleben, nun wird, nach Porpora, Vinci und Händel, zum ersten Mal ein Bühnenwerk jenes Meisters gespielt, der als Opernkomponist lange im Schatten der ganz Großen stand. In Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters, also der Bibel aller Opernfreunde, wurden vor 24 Jahren gerade einmal vier der 20 überlieferten Werke in Werkartikeln beschrieben; dass Orlando furioso darunter ist, ist kein Zufall, aber inzwischen wurden mehr als die damals beschriebenen Opern ausgegraben.
Steht Vivaldi wirklich im Schatten eines Händel, Hasse, Porpora? Nur, wenn man auch an die Vertonung des oft vertonten Roland-Stoffs Maßstäbe anlegt, die vom Wesentlichen absehen: dem Raum, für den Vivaldi, ausgestattet mit seiner individuellen Tonsprache, den Orlando schrieb. Venedig ist und war nicht wie andere Städte, das weiß nicht allein die Erfinderin Brunettis. Venedig ist und war, bei allen Problemen, eine Stadt des immerwährenden Vergnügens, also gehorchten auch Vivaldis venezianische Opern einem Kurs, der das Opernschiff sehr direkt auf dem Kanal hält, auf dem ein Maximum an Unterhaltung garantiert ist. Als so etwas wie ein Impresario des Teatro S. Angelo wusste Vivaldi, was er seinem Publikum bieten musste. Also ist sein Orlando – in der definitiven Fassung von 1727 – ein prachtvolles Stück Entertainment. Dafür musste Vivaldi die Gattung Oper nicht revolutionieren; im Dramma per Musica namens Orlando – es ist nur einer der Höhepunkte der Aufführung – begegnet zwar eine formal erweiterte Wahnssinnsszene („Hò cento vanni al tergo“), doch bedient Vivaldi ansonsten das gängigen Schema von Arie und Rezitativ.
Wie anders Händel nur wenige Jahre später seinen Orlando anging: darüber unterrichtete erst kürzlich das jüngste Händel-Jahrbuch (Rezension auf https://deropernfreund.de/buecher-discs/buecherecke/buchkritik-haendeljahrbuch-2023/). Und doch haben die Besucher am Abend größten Spaß an den Verwirrungen, die der Librettist Grazio Bracciolo zusammen mit seinem Komponisten der literarischen Vorlage abgewann. Nimmt die Inhaltsangabe der Oper auch viele Zeilen ein, so genügt es, darauf hinzuweisen, dass es hier in extremer Weise um die Verwirrungen von Liebe und Verliebtheit, Zufall und Zauberei geht. Die bekannte Magierin Alcina, die nicht minder moralisch zweifelhafte Angelica, der zwischenzeitlich an der Liebe wahnsinnig werdende Orlando, die Nebenpaare mit ihren Amanten und Amantinnen: Man muss die dramaturgischen Wege und Umwege nicht referieren, um zu kapieren, dass die Macher des Orlando ihr Publikum vor allem gut unterhalten wollten. Der Plan ging damals fast auf. Zwar wurde das Werk, warum auch immer, in Venedig nicht mehr nachgespielt, aber einige Stücke aus seinem ersten Orland von 1714 erlebten zwischen 1735 und 1742 noch einige Aufführungen in Aufführungen in Italien und in Brünn, bevor Orlando unter den wenigen bekannten Opern Vivaldis seit 1977 ein Revival erlebte.
Kein Wunder, denn die Mischung aus Pathos und Galanterie, wie sie sich in den Arien äußert, während die Secco-Rezitative nur „normal“ sind und orchesterbegleitete Rezitative kaum vorkommen, macht alle Wirkung – wenn Sänger wie die des Abends und ein Orchester von Rang das Werk realisieren. Il Pomo d’Oro lässt sich erst gar nicht auf Kompromisse ein. Die Sinfonia, eine Übernahme aus Giustino, kommt bereits wie einer jener Meeresstürme über die Zuhörer, die Vivaldi so gern in Noten setzte. Unter Francesco Corti spielt das Ensemble einen denkbar frischen und zupackenden, farblich reichen und beschwingten Vivaldi. Das Vokalensemble stattet die Produktion des Teatro Communale di Ferrara und des Teatro Pavarotti di Modena mit allem Glanz aus: Der Titelheld ist mit Yuriy Mynenko erstrangig besetzt worden; sein strahlend-kräftiger Counter vermag zugleich die lyrischen wie die heroisch-verzweifelten Passagen Vivaldis mit Verve auszufüllen. Die beiden Hauptdamen, die Zauberin Alcina und die Königin Angelica – zwei relativ skrupellose Verführerinnen des Glücks und der Helden –, bilden mit Giuseppina Bridelli und Arianna Venditelli ein weibliches Traumpaar der stimmlich-sinnlichen seduzione, denen ebenso die geläufigen Gurgeln wie die Töne einer emotionalen Versenkung zur Verfügung stehen. Letztere erlebt ihren Höhepunkt in Ruggieros, also Tim Meads Arie „Sol da te, mio dolce amore“, der einzigen Arie mit einem Soloinstrument. Der Traversflötenspieler Pietro Modesti begleitet auf äußerst zauberische Weise die Liebeserklärung an Alcina – es ist eine durch einen Zauber hervorgerufene Liebe, aber auch sie klingt ja bekanntlich sehr schön. Großer Applaus auch für Sonja Runje und Chiara Brunello, die die Bradamante und den Medoro, zwei weiteren Gestalten im Irrgarten der falschen und der richtigen Lieben, glänzend aussingen. Dass die Nebenpersonen von Bracciolo und Vivaldi kaum charakterisiert wurden, verschlägt nichts, oder anders: Wenn wir sie mit ihren gut unterhaltenden und im besten Sinne routiniert gemachten Liebes- und Zorn-Arien hören, müssen wir nicht über Shakespeare, der im Hintergrund mancher Händel-Oper herumschwirrt, denken, obwohl das Thema der Liebe durch Verzauberung doch auch ein Thema des Midsummernightdream ist …nicht zu vergessen: José Coca Loza, der den Astolfo ebenso stimmschön und ausdrucksstark bringt.
Man merkt: Die Geschichte aus dem Fantasy-Reich der Renaissance und des Barocks ist vielleicht doch nicht so einfach, wie es uns die Typisierung durch Arie und Rezitativ, „böser“ Zauberin und „gutem“ „Helden“ nahelegt. Die Regie tut das Ihre, um dem musikalischen Vergnügen mit deutlichen, dabei ästhetischen Bildern beizuspringen. Marco Belussi hat den Videodesigner Fabio Massimo Iaquone engagiert, der seine Videowand zwischen Spiegelrahmen gestellt hat, die die von Matteo Paoletti Franzato gestaltete Bühne, die wir teilweise schon in Porporas Ifigenia in Aulide sahen, an drei Seiten begrenzen. Man schaut auf Atmosphärisches und Kosmisches: Herbst- und Winterstürme, dünne Bäume und Gebüsche im Sturm, Sternenmyriaden und Nebel, Wort- und Namenkolonnen in Orlandos krankem Hirn, Liebe und Verzweiflung, die Natur der Natur und die Natur des (leidenden) Menschen. Davorgestellt: singende Menschendarsteller in historisierenden, von Elisa Cobello entworfenen Kostümen, die bewusst schön sein wollen, weil es im Orlando vor Allem um die Verführung geht – um die Verführung durch Schönheit.
Oder, wie es Donna Leon in ihrem Büchlein Kurioses aus Venedig, dem eine Vivaldi-CD beigelegt ist, auf den Punkt brachte: „Vivaldi war mehr als bereit, ja begnadet, seinen Zeitgenossen mit einem scheinbar endlosen Festmahl von erstaunlicher Musik aufzuwarten.“ Festmähler aber zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein unkompliziertes, doch hervorragend komponiertes Vergnügen bereiten, an das man sich noch länger erinnert.
Der Orlando des Bayreuth Baroque war genauso ein Festmahl.
Frank Piontek, 11. September 2024
Orlando furioso
Antonio Vivaldi, Grazio Bracciolo
Markgräfliches Opernhaus, Bayreuth
Premiere: 11. September 2024
Musikalische Leitung: Francesco Corti
Il Pomo d’Oro