Buchkritik: „Strauss. Eine Wiener Familie revolutioniert die Musikwelt“, Michael Lemster

Der so „runde“ 200. Geburtstag jährt sich zwar erst am 25, Oktober 2025, aber das anstehende  Johann Strauß-Jahr wird schon heftig vorbereitet. Handelt es sich schließlich um den „Sohn“, den „Walzerkönig“, den „Jean“ bzw. den „Schani“, kurz, um den Prominentesten der ganzen Sippe. Für ihn hat man das Neujahrskonzert erfunden und schickt seine Musik jährlich in die ganze Welt. Über ihn selbst wurden schon zahlreiche Bücher geschrieben, von der Huldigung Marcel Prawys bis zur Krönung seiner Person als „Pop-Star“ seiner Epoche. Aber wie anders wäre das Leben von Johann Strauß Sohn ohne seine große Familie verlaufen? Ohne Vater, Mutter, Brüder, die alle so wichtig für ihn waren?

Im Vorfeld des Strauß-Jahres hat Michael Lemster (mit den „Mozarts“ und den „Grimms“ als Experte für Familienzusammenhänge ausgewiesen) sich infolgedessen die Familiengeschichte (die auch eine „Firmengeschichte“ ist), vorgenommen. Da geht es um einen Vater, eine sehr wichtige Mutter, drei Söhne und noch so manche Figuren (meist weiblich), die um diese Fixsterne kreisen.

Apropos „Strauss“. Man hat es als Musikfreund immer als angenehm empfunden, dass die Schreibweise sie unterschied – hier „Strauss“, Richard, dort „Strauß“, die Mitglieder der Familie Strauß. Nun erfährt man, dass Johann selbst sich „Strauss“ schrieb, muss sich also an die Änderung gewöhnen. Es sei vermerkt.

Michael Lemster als Autor weiß, dass Dokumente nicht alles erzählen. Dass vieles im Dunkeln bleibt. Er spielt nicht den allwissenden Autor, sondern den fragenden. Und er urteilt nicht – wohin käme man, wenn die Nachwelt verurteilend über einen ungetreuen „Vater“ Strauss, die durchaus rachsüchtige Mutter oder über die Ehen des „Jean“ mit zweimal signifikant jüngeren Frauen den Kopf schüttelte. Der Versuch zu erklären, warum was so und so verlief, ist ehrlicher. Gänzlich haltbar und beweisbar ist es natürlich nicht.

Und noch etwas Grundsätzliches: Der Autor interessiert sich für alles. Er weiß, dass kein Mensch im luftleeren Raum lebt, dass Zeit und Umwelt seine Geschichte „mitschreiben“. Hätte die Musik von Strauss-Vater so unendlich populär werden können, wäre sie nach dem Wiener Kongress nicht auf ein nach Schönheit und Lust ausgehungertes Publikum getroffen, das mehr oder minder ein Vierteljahrhundert Napoleonische Kriege erlitten hatte? Kurz, manche Überlegungen, die nicht eng an der Familiengeschichte bleiben, fallen ausführlich aus, weil der Autor so viel erzählen will.

Und noch etwas: Lemster weiß natürlich, dass er bald zu Beginn und in aller Breite die Geschichte der „jüdischen“ Sträusse behandeln muss – dass Hitler und Goebbels nicht dulden wollten, dass ein „getaufter Jude“ im Stammbaum der Sträusse auftauchte und sie tatsächlich das Kirchenbuch von St. Stephan änderten… das kann man im Anekdotenschatz der Familie (den der Autor nicht verschmäht) nicht missen.

Anekdoten klingen heiter, die Geschichte der Familie war es nicht – schon wegen der bitterarmen Verhältnisse, aus denen Johann, der Vater, kam, und aus denen er sich mit Gewalt herausarbeiten musste. Wie hart er gewesen sein muss, zeigt allein die unbegreifliche Tatsache, dass ein erfolgreicher Musiker nicht stolz auf die evidente Begabung seines Erstgeborenen war, sondern sie zu unterdrücken versuchte. Sie hätten keine Spur von Talent, behauptete er von Johann und Joseph – wer weiß, warum…

Der Erfolg des „Vater“ Strauss als Komponist und Dirigent war hart erarbeitet und eine Notwendigkeit durch die finanziell belastende Tatsache, dass er nach und nach zwei parallele Familien mit insgesamt 14 Kindern hatte. Johann, der Sohn, Spielball zwischen Mutter und Vater, reüssierte mit seinem ungeheuren Talent, man kann schon Genie sagen  – aber mit Komponieren, Organisieren (vielfach als sein eigener Impresario agierend), Dirigieren (es war schwere körperliche Arbeit, vor dem Orchester zu stehen und dem Publikum auch noch den lockeren, schwungvollen Kapellmeister-Star vorzuspielen), sich um Druck und Vermarktung der Musik zu kümmern, Verträge mit nicht immer korrekten Geschäftspartnern auszuhandeln, zudem der bis zu dessen Ende währenden Konkurrenzkampf mit seinem Vater, die anstrengenden Tourneen, nicht zuletzt mit seinen drei spannungsreichen Ehen beanspruchte er seine Gesundheit bis aufs Äußerste.

Immerhin, im Gegensatz zu seinem Vater, der gerade 45 Jahre alt (und mit dem „Radetzkymarsch“ unsterblich) wurde, kam Johann Strauss Sohn, dessen Gemüt seiner oft so umwerfend fröhlichen Musik widersprach, bis in sein 74. Lebensjahr. Wenigstens durch die „Fledermaus“ war er dann wirklich reich geworden.

Die Tragik der Brüder Joseph, auch er früh verstorben, und Eduard, dem Langlebigsten unter ihnen, bestand darin, dass sie trotz ihrer Talente im Schatten des Bruders Johann standen. Man  hat in ihnen selten mehr gesehen als Ersatzmänner in dem Musikbetrieb, den Mutter Anna bis zu ihrem Tod entschlossen am Laufen hielt. Mit den Sträussen durchtanzten die Wiener politische Repression und Seuchen, Revolutionen und Verwerfungen des 19. Jahrhunderts.

Nein, ihre Erfolgsgeschichte ist keine strahlende, glücklich machende, sie waren keine freien Künstler, erfüllt in ihrem Schöpfertum, sie gehorchten einem Markt mit eisernen, würgenden Gesetzen – und dass dabei so grandiose, vielfach unvergleichliche Musik entstanden ist, kann man als das wahre Wunder der Strauss-Familie betrachten.

Renate Wagner, 19. Oktober 2024


Michael Lemster:
STRAUSS
EINE WIENER FAMILIE REVOLUTIONIERT DIE MUSIKWELT
496 Seiten, Benevento Verlag, 2024