Was für einen mitreißenden, begeisternden, rasanten und witzigen Musical-Abend durfte man gestern Abend in St. Gallen erleben! Da wurde mit großer Kelle angerichtet und das Aufgetischte schmeckte schlicht fantastisch. Es stimmte einfach alles; jede Zutat trug das ihrige bei, um ein unvergessliches, vergnügliches und irrwitziges Musical-Erlebnis zu garantieren. Da ist natürlich das Stück, Richard O’Briens so unverhoffter großer und schnell Kultstatus erlangender Wurf von 1973, da sind die schlicht großartig gestaltete Bühne und die entsprechenden Kostüme der Ausstatterinnen Annette Hachmann und Elisa Limberg, da findet eine Regie von Christian Brey statt, welche die Pointen präzise setzt und gekonnt trashig daherkommt, eine Choreografie von Barbara Tartaglia, bei der einem vor lauter Rasanz und Perfektion schwindelig werden könnte, unterstützt vom umwerfenden Lichtdesign von Andreas Enzler und den faszinierenden Videoeffekten von Thomas Mahnecke. Aus dem Graben sorgt die Rocky Horror Band unter der Leitung des Key I spielenden Tobias Cosler mit Gallus Hächler / Robert Paul (Key II), Simon Kessler / Nico Stettler (Gitarre), Walo Bortoletto / Thomy Jordi (Bass), Patrick Fa (Drums) und dem unnachahmlichen Marco Karrer mit seinem Tenorsaxofon, der im goldenen Glitter Sakko die Nummer I’m going home zu einem Highlight des Abends machte.
Aber eigentlich war jede der Gesangsnummern, die im Verlauf der Jahrzehnte zu regelrechten Rock-Ohrwürmern wurden, ein Highlight. Denn die Darsteller spielten, tanzten und sangen allesamt überirdisch gut. Deshalb erfolgt die Würdigung in der Reihenfolge des Besetzungszettels: Yascha Finn Nolting verkörperte den Schlossherrn und Spiritus Rector des gesamten Spuks, Frank’N’Furter, mit unfassbarer Grandezza in High Heels und Strapsen, war verführerisch als sexuell Besessener, der alles f…te, was nicht bis drei auf den Bäumen war, egal ob Frau oder Mann oder selbst erschaffene Kreatur (Frankenstein lässt grüssen). So wurde die frisch verlobte Janet Weiss von Pascale Pfeuti zu Beginn herrlich naiv und leicht hysterisch gegeben, dann, nach der sexuellen Erweckung durch Frank’N‘ Furter, trat sie immer selbstbewusster und frecher auf.
Ihrem Verlobten Brad Majors erging es nicht anders: Jonathan Fiebig wandelte sich vom braven, seriösen All American Boy in biederer Feinripp Unterwäsche nach der sexuellen Erfahrung mit Frank’N’Furter zum stolzen Straps Träger. Beide sangen ihre Szenen mit großartigen Stimmen. Der stilistisch vielseitige Schweizer Chansonnier Michael von der Heide verlieh dem unheimlichen, buckligen Riff Raff, der sich vom servilen Diener zum in Silberrüstung strahlenden Außerirdischen entwickelte, beängstigend eindringliches Profil – eine sängerische und darstellerische Grosstat!
Als seine Sister-in-Crime liess Maya Alban-Zapata bereits in dem Abend eröffnenden Song Science fiction – Double Feature mit einem irre interessanten stimmlichen Timbre aufhorchen. Zum Niederknien!!! Auch Lilly Hartmann als Columbia sang herausragend gut und spielte die etwas amorphe Rolle hochklassig. Das Muskelpaket Rocky, das sich Frank als Ersatz für den zu schlaksigen Eddie erschaffen hatte, wurde von Michael B. Sattler mit gekonnt tumbem Sex-Appeal verkörpert. Der schlaksige Eddie legte umwerfende Auftritte als Rock ’n‘ Roller und als Zombie hin. Sein Vater, der im Rollstuhl sitzende Dr.Scott, fand in Christian Hettkamp einen Interpreten von gewaltiger Eindringlichkeit. Wie er da seinen bulgarischen Akzent heraushebt, sich im Verlauf der immer turbulenten daherkommenden Geschehnisse die Decke von den Knien reißt und so offenbart, dass auch der Wissenschaftler genderfluid ist (Strapse, Strümpfe, Highheels) ist Große Klasse!
Natürlich wird da immer ganz bewusst an der Grenze zum derben Klamauk entlanggeschlittert, doch das ist alles mit so viel Enthusiasmus, schauspielerischem und gesanglichem Können angereichert, dass man nur noch zurücklehnen und genießen kann. Unterstützt wurden all diese grossartigen Darsteller auch von den sechs „Phantoms“, singenden Tänzern von stupender Artistik: Sarah Madeleine Kappeler, Daniela Moser, Zoe Staubli, Robert Lankester, Laurent N’Diaye und Sandro Wenzing. Ein grosses Lob gebührt auch der von Marko Siegmeier und Nicolai Gütter-Graf verantworteten, exzellenten Tontechnik, die mit perfekter Abmischung und ohne Übersteuerung, die englisch gesungenen Songs und die deutsch gesprochenen Dialoge verstärkt.
Mutig ist die Erzählerin, die große Heidi Maria Glössner: Jeder ihrer Auftritte wird von einem Buh-Konzert und von Zwischenrufen (aufhören, langweilig!) des Publikums begleitet. Wer das Stück nicht kennt, ist vielleicht verwirrt, doch gehört sich das so, ist kultige Tradition beim Stück und beim Film geworden. Erst wenn Heidi Maria Glössner dann zum Schlussapplaus die Hose ihres fliederfarbenen Anzugs abgelegt hat und ebenfalls in Strapsen auftritt, ist ihr der Jubel des Publikums gewiss. Diese Traditionen, dazu gehören auch das Spritzen mit Wasserpistolen, das Werfen von Konfetti und Papierschlangen und das Schwenken von Lichtern – manchmal auch das Herumwerfen von Esswaren, aber dies hat das Theater St. Gallen explizit untersagt – machen diese Aufführungen seit über fünf Jahrzehnten zu Events und zu Klassikern. Das Theater St.Gallen bietet den Besuchern eine Mitmachtasche an, mit Konfetti, Wasserpistole, Federboa und Lichtstab.
Deshalb nichts wie hin nach St. Gallen. Mindestens einmal im Leben muss man das erlebt haben. Denn dieses Musical ist nicht nur eine skurrile Geschichte mit toller Musik – es ist auch ein Plädoyer für sexuelle Selbstbestimmung und Vielfalt, das ohne erhobenen Zeigefinger daherkommt! So prangt denn auch DONT DREAM IT – BE IT in kunstvoll wechselnder Leuchtschrift rechts oben über der Bühne.
Kaspar Sannemann, 21. Oktober 2024
The Rocky Horror Show
Richard O’Brien
Theater St. Gallen
19. Oktober 2024
Choreografie: Barbara Tartaglia,
Regie: Christian Brey
Tobias Cosler und die Rocky Horror Band